Wenigstens sah er inzwischen wieder wie ein normaler Mensch aus. In der Kammer in Quindals Werkstatt, wo er die Nacht verbracht hatte, gab es eine Waschgelegenheit. Der Erfinder hatte ihm außerdem neue Kleider und Schuhe besorgt, denn so schmutzig, wie er gewesen war, hätte er der Lady unmöglich unter die Augen treten können.
»Überlass mir das Reden«, fuhr Quindal fort. »Sprich nur, wenn man dich dazu auffordert. Lady Sarka ist sehr misstrauisch. Möglicherweise wird sie versuchen, mehr über dich herauszufinden. Überleg dir also genau, was du sagst.«
Liam war nicht auf den Mund gefallen. Als Blitzhändler musste er sich tagtäglich mit den Aethermaklern herumschlagen, jenen Meistern in der Kunst des Feilschens. Wenn es sein musste, konnte er lügen und schauspielern, was das Zeug hielt. Aber konnte er es auch gut genug, um die mächtige und gerissene Herrscherin von Bradost hinters Licht zu führen?
»Das wird nicht einfach«, sagte der Erfinder, dem die Anspannung anzusehen war. »Und selbst wenn wir es schaffen, fangen die Schwierigkeiten erst an. Im Palast bist du auf dich gestellt. Wenn man dich erwischt, kann und werde ich nichts für dich tun. Ich werde behaupten, all das sei deine Idee gewesen, und ich hätte davon nicht das Geringste gewusst.«
Liam nickte. Dies war die Bedingung, unter der Quindal eingewilligt hatte, ihm zu helfen. Ob das dem Erfinder etwas nutzte, wenn man Liam auf die Schliche kam, stand jedoch auf einem anderen Blatt.
»Ich war erst ein paar Mal im Sarka-Anwesen und kann dir nur wenig darüber sagen. Die meisten Zimmer stehen leer. Der Hauptflügel wird für gesellschaftliche Anlässe genutzt; dahinter befindet sich der Kuppelsaal mit den Gemächern der Lady. Wenn das Buch wirklich so wichtig ist, wie dein Vater glaubte, bewahrt sie es vermutlich in ihrer persönlichen Bibliothek auf. Soweit ich weiß, hat der Kuppelsaal nur einen Zugang. Er wird bewacht sein, also sei auf der Hut.«
»Wie erkenne ich das Buch?«, fragte Liam. »Ich weiß nicht, wie es aussieht.«
»Ich versuche, mehr darüber herauszufinden. Als Palastdiener hast du einen freien Tag in der Woche. Diesen Tag nutzen wir, um uns zu treffen und uns gegenseitig auf den neusten Stand zu bringen.«
»Ist das nicht zu auffällig?«
»Man hält dich für meinen Verwandten. Niemand wird sich etwas dabei denken, wenn du mich besuchst.«
Die Droschke hielt an. Liam blickte aus dem Fenster und stellte fest, dass sie zum Magistratsgebäude gefahren waren. »Was tun wir hier? Ich dachte, wir fahren zum Sarka-Anwesen.«
»Die Lady ist tagsüber im Magistrat und geht ihren Regierungsgeschäften nach.« Als Liam aussteigen wollte, hielt Quindal ihn zurück. »Warte. Eine Sache noch: Egal, was du im Palast tust, nimm dich vor den Krähen in Acht.«
»Krähen?«
»Sie nisten im Dachgebälk des Anwesens. Corvas spricht ihre Sprache und setzt sie als Kundschafter und Spione ein. Wenn du eine Krähe siehst, verhalte dich unauffällig. Versuch nicht, sie zu vertreiben; das macht dich verdächtig. Und jetzt kein Wort mehr von diesen Dingen«, sagte Quindal barsch und öffnete die Droschkentür.
Der Magistrat war ein imposanter Bau, der am Flussufer stand und über zahlreiche Flügel und Nebentrakte verfügte. Rußgraue Säulen säumten die Treppenaufgänge, hohe Fenster mit eisernen Gittern gewährten Blicke in die Säle und Zimmer. Drei Jahrhunderte lang hatten gewählte Magistrate darin die Geschicke der Stadtrepublik Bradost gelenkt; seit ein paar Jahren diente das Gebäude der Lady und ihren Beratern als Amtssitz. Gegenüber befanden sich die Reste der alten Festung, deren Türme, Bastionen und Kasematten vor langer Zeit zu Kasernen umfunktioniert worden waren. Bewaffnete gingen darin ein und aus, Pikeniere, Kavalleristen und Soldaten der Miliz, die im Namen der Lady die Ordnung in der Stadt aufrechterhielten.
Liam und Quindal stiegen die breite Treppe zum Hauptflügel des Magistratsgebäudes empor. Die Wachen vor dem Portal grüßten den Erfinder respektvoll und ließen ihn ungehindert eintreten. Quindal hatte erzählt, nach dem Niedergang der Republik sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich für seine Arbeit private Geldgeber zu suchen: reiche Bürger und Adlige, die sich um die Wissenschaft verdient machen wollten. Zu seinen wichtigsten Förderern gehörte auch Lady Sarka, der daran gelegen war, Luftschiffentwicklung und Aethertechnik voranzutreiben. Deshalb konnte Quindal bei ihr stets mit einem offenen Ohr rechnen.
In der Eingangshalle mit ihren Statuen von längst verstorbenen Kriegshelden wurden sie von einem livrierten Amtmann in Empfang genommen. Quindal brachte sein Anliegen vor, woraufhin sie der Beamte zu einem düsteren Zimmer mit holzgetäfelten Wänden führte. Er bat sie, hier zu warten, und verschwand in einer Tür, vor der zwei Spiegelmänner Wache standen. Liam vermied es, die Maskierten anzuschauen. Er fürchtete, man könnte ihm seinen Zorn ansehen, den er in ihrer Nähe unweigerlich empfand.
Kurz darauf kam der Beamte zurück und bat sie herein. Liam folgte Quindal in ein größeres und helleres Zimmer. Ein Tisch voller Schriftstücke dominierte den Raum. Dahinter, in einem Stuhl mit hoher Lehne, saß Lady Sarka.
Es war nicht das erste Mal, dass Liam die Lady sah. Sie zeigte sich oft in der Stadt, bei Paraden, festlichen Anlässen oder der Einweihung wichtiger Gebäude wie der Aetherbörse im vorigen Jahr. Aber noch nie war er ihr so nahe gekommen, und während er sich verneigte, erschien ihm sein ganzes Vorhaben immer mehr wie blanker Wahnsinn. Er konnte nur hoffen, dass sie sein Entsetzen für Ehrfurcht angesichts ihrer Gegenwart hielt.
Die Lordkanzlerin war nicht allein im Zimmer. Hinter dem Tisch stand eine rothaarige Frau, ganz in Schwarz gekleidet, mit verschränkten Armen und grimmigem Blick. Auch sie war Liam nicht unbekannt, denn sie wich ihrer Herrin nie von der Seite. Es handelte sich um Umbra, die Leibwächterin der Lady und neben Corvas einer ihrer wichtigsten Diener.
»Nestor«, sagte Lady Sarka mit einem warmen Lächeln. »Was für eine angenehme Überraschung. Ich rechne schon gar nicht mehr damit, dir außerhalb deiner Werkstatt zu begegnen. Verlässt du sie überhaupt noch?«
»Kaum, Euer Gnaden«, erwiderte der Erfinder. »Meine Arbeit beansprucht mich zu sehr.«
»Dein Pflichteifer ist vorbildlich. Oder sollte ich Besessenheit sagen?«
»Ich lebe eben für die Wissenschaft.«
»Was würde Bradost nur ohne dich anfangen? Es gäbe keine Luftschiffe, keine Gaslampen, keine Aethermaschinen. Wir wären immer noch im Altertum.«
»Ich glaube, Ihr überschätzt meinen Anteil am Fortschritt, Euer Gnaden.«
»Sei nicht so bescheiden, Nestor. Wir alle wissen, was du für unsere Stadt getan hast. Wer ist der Junge?«
Liam war, als bemerke die Lady ihn erst jetzt. Ehrfürchtig senkte er den Blick.
»Liam Hugnall, mein Großneffe aus Torle«, stellte Quindal ihn vor. »Seinetwegen bin ich hier.«
»Ich wusste gar nicht, dass du Familie im fernen Torle hast«, sagte die Lady, während sie Liam musterte.
»Ein entfernter Zweig väterlicherseits, zu dem ich bisher kaum Kontakt hatte. Doch jetzt sind Liams Eltern gestorben, und ich musste ihn bei mir aufnehmen.«
»Deine Eltern sind gestorben?«, erkundigte sich Lady Sarka freundlich. »Darf ich fragen, woran?«
»Die Cholera«, antwortete Liam scheu.
»Ich habe davon gehört. Die dritte Welle in fünf Jahren, nicht wahr? Ich frage mich, wann unsere Nachbarn endlich etwas gegen die katastrophalen Zustände in ihren Städten unternehmen.«
»Ich bin Liams letzter lebender Verwandter«, fuhr Quindal fort. »Es wird also das Beste sein, wenn er vorerst in Bradost bleibt.«
Die Lady nickte. »Du kannst dich glücklich schätzen, einen so berühmten Großonkel zu haben.«
»Ja«, murmelte Liam.