»Was kann ich also für dich tun?«, wandte sie sich an Quindal.
»Ich habe gehofft, Ihr könntet dem Jungen Arbeit geben, wenn Ihr mir die Direktheit gestattet.«
»Kann er nicht in deiner Werkstatt arbeiten?«
Liam zuckte innerlich zusammen. Natürlich! Was die Lady vorschlug, war mehr als offensichtlich. Wieso hatten sie das nicht bedacht?
Glücklicherweise hatte Quindal die passende Erklärung parat: »Das habe ich bereits versucht. Aber ich fürchte, er ist für diese Art von Arbeit einfach nicht geschaffen.«
»Was hast du denn in Torle gemacht?«, sprach die Lady Liam an.
Seine Gedanken überschlugen sich schier, als er versuchte, eine Antwort zu finden, die zu seinen Plänen passte. Abermals kam ihm der Erfinder zuvor:
»Er war Hausdiener und Gärtner bei einem Seidenhändler.«
»Gärtner«, wiederholte Lady Sarka. »Nun, er könnte in den Gärten meines Palastes arbeiten, wenn er möchte.«
»Das würdet Ihr für ihn tun?«, erwiderte Quindal. »Ich danke Euch, Euer Gnaden. Ihr erweist mir damit eine große Ehre.«
»Das ist selbstverständlich, Nestor. Bradost steht so tief in deiner Schuld, dass ich gar nicht genug für deine Familie tun kann.«
»Du hast Ihre Gnaden gehört, Junge«, flüsterte Quindal. »Zeig ihr gefälligst deinen Respekt!«
Liam verneigte sich erneut und murmelte, er nehme das Angebot dankbar an.
»Herrin«, mischte sich Umbra ein. »Brauchen wir wirklich noch einen Gärtner? Wir haben doch gerade erst den anderen Jungen eingestellt.«
»Na und? Hume liegt mir seit Jahren in den Ohren, er brauche noch mindestens zwei Hilfskräfte.« Lächelnd wandte sich die Lady Liam zu. »Du kannst sofort anfangen. Einer meiner Diener, Jocelyn, wird dich zu meinem Anwesen bringen.«
Kurz darauf verließen sie das Zimmer. Liams Herz pochte so heftig, dass er fürchtete, es könnte jeden Moment zerspringen. Er hatte es tatsächlich geschafft! Dank Quindal war es nicht einmal besonders schwer gewesen.
Als sie zur Eingangshalle kamen, sagte der Erfinder leise: »Der erste Schritt ist getan. Alles Weitere liegt bei dir. Viel Glück.«
Nachdem Quindal sich verabschiedet hatte, blieb Liam in der Halle zurück und wartete auf Jocelyn. Wenig später tauchte der Diener auf und stieg mit ihm draußen in eine Droschke ein. Während der kurzen Fahrt durch die Altstadt sprach Jocelyn nur das Nötigste mit ihm - offensichtlich hielt er es für unter seiner Würde, mit einem Hilfsgärtner zu reden, mochte dieser auch ein Verwandter des berühmten Erfinders sein.
Lady Sarkas Anwesen stand auf einem Hügel und war von einem weitläufigen Garten umgeben, wodurch es Liam wie eine Insel im Gassengewirr erschien - eine Insel der Stille inmitten der städtischen Geschäftigkeit. Uralte Bäume, verwitterte Statuen von geflügelten Fabelwesen und Dornenhecken umgaben das mehrstöckige Gebäude, dessen vier Flügel kreuzförmig um eine Kuppel aus Eisenstreben und Glas in der Mitte angeordnet waren. Efeu rankte sich an den dunklen Mauern empor, stellenweise so dicht, dass Simse und Fenster darunter verschwanden. Selbst im Licht der Morgensonne wirkte das Anwesen düster und bedrohlich, und wie es da stand und die Umgebung überragte, erweckte es den Anschein, als würde es die Stadt und ihre Bewohner unaufhörlich beobachten. In den angrenzenden Gassen hielten sich kaum Menschen auf, denn wer konnte, machte einen weiten Bogen um den Palast. Niemand war erpicht darauf, der gefürchteten Herrscherin von Bradost zu nahe zu kommen.
Spiegelmänner bewachten das eiserne Tor. Die Maskierten öffneten es für die Droschke, sodass sie bis vor das Anwesen fahren konnten. Nachdem Liam ausgestiegen war, blickte er mit einer Mischung aus Angst und gespannter Erwartung zu den Erkern und Fenstern des verwinkelten Gebäudes auf. Irgendwo dort drinnen, versteckt in einem der zahllosen Zimmer, befand sich das Gelbe Buch von Yaro D’ar, das seinen Vater das Leben gekostet hatte. Er würde es aufspüren und seinem Geheimnis auf den Grund gehen, allen Gefahren zum Trotz.
Dann hörte er einen Krähenschrei und entdeckte Dutzende, wenn nicht Hunderte von schwarzen Vögeln auf den Wasserspeiern, Giebeln und Kaminen. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, und er fragte sich zum tausendsten Mal, worauf er sich nur eingelassen hatte.
Jocelyn führte ihn durch die Eingangshalle, in der sich weitere Spiegelmänner aufhielten, stumm und regungslos wie die Standbilder im Garten. Sie betraten den Gesindetrakt, wo Jocelyn ihm eine Kammer zuwies. Zu Liams Überraschung befand sich darin nur eine Einrichtung für eine Person. Er hatte erwartet, gemeinsam mit den anderen Bediensteten in einem Saal zu wohnen, wie dies in solchen Anwesen üblich war. Standen in dem Gebäude so viele Zimmer leer, dass die Lady es sich erlauben konnte, jedem ihrer Diener eine eigene Kammer zu überlassen?
Nachdem Liam den Zimmerschlüssel erhalten hatte, durchquerten sie den Garten, bis sie zu einem Apfelhain kamen. An einem der Bäume lehnte eine Leiter. Ein untersetzter Mann in einer Lederschürze stand darauf und beschnitt die Äste. Ein rothaariger Junge sammelte die herabgefallenen Zweige auf und warf sie auf einen Haufen.
»Hume?«, rief Jocelyn. »Hier ist ein neuer Gehilfe für dich.«
Der Angesprochene kletterte von der Leiter und musterte Liam mit gutmütiger, aber verwirrter Miene. »Noch ein Gehilfe? Wo kommen die auf einmal alle her?«
»Er soll sofort anfangen. Geheiß der Herrin.« Und damit empfahl sich der dünkelhafte Dienstbote.
Der Mann namens Hume schob die Hand unter die Lederschürze und kratzte sich am Bauch. »Nun ja, mir soll’s recht sein. Gibt hier weiß Gott genug zu tun. Wie heißt du?«
»Liam Hugnall«, stellte Liam sich vor.
Hume winkte den rothaarigen Jungen zu sich, der Liam neugierig musterte. »Du hast Jocelyn gehört. Von nun an arbeitet ihr zusammen. Zeig Liam alles und gib ihm sein Werkzeug.«
Der Gärtner stieg wieder die Leiter hinauf, während der Rothaarige »Da entlang« murmelte und vorausging. Er war schmächtig und mochte etwas jünger als Liam sein, vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Sein blasses Gesicht war gerötet. Offenbar hatte er sich bei der Gartenarbeit einen Sonnenbrand zugezogen.
Er führte Liam durch den Apfelhain zu einem Bretterverschlag, der beinahe unter Kletterpflanzen verschwand. Drinnen standen Säcke, Kisten und Fässer herum. Es roch nach frischer Erde.
»Hier findest du alles, was wir für die Arbeit brauchen«, erklärte der Rothaarige. »Da sind Messer und Heckenscheren, da drüben Schaufeln, Harken und Gießkannen. In den Säcken ist Samen und in den Fässern Dünger. Mach sie besser nicht auf; das Zeug stinkt scheußlich. Sieh mal, hier sind Schürzen. Die müsste dir passen.«
»Danke.« Liam nahm den Lederkittel entgegen. Als er gerade hineinschlüpfen wollte, bemerkte er aus dem Augenwinkel einen Schatten, der flatternd herangeschossen kam. Erschrocken fuhr er herum.
Im Eingang des Schuppens landete eine Krähe und starrte ihn an.
Zischend ließ Liam den Atem entweichen. Er war so nervös, dass er hinter jeder Ecke Gefahr vermutete. Wenn es ihm nicht bald gelang, sich zu entspannen, machte er sich noch verdächtig.
»Du magst Krähen nicht, was?«
Liam hielt es für klüger, nicht darauf zu antworten.
»Ich kann sie auch nicht leiden.« Der Rothaarige scharrte mit dem Fuß über den Boden, sodass der Vogel von einer Ladung Sand getroffen wurde. Krächzend flog er davon.
»Ich bin übrigens Jackon«, sagte Humes Gehilfe und lächelte schüchtern.
13
Im Reich des Madenkönigs
Gebeine stapelten sich in den Nischen, vergilbte Schädel, Rippen und Armknochen, die bei der kleinsten Berührung zu Staub zerbröckelten.
Lucien vermochte nicht zu sagen, wie tief unter der Stadt sie sich befanden - eine halbe Meile, vielleicht mehr. Diese Tunnel stammten aus einer Zeit, als die Menschen noch grausamen Götzen gehuldigt hatten, lange bevor Tessarion mit seinen Jüngern und Propheten über das Meer gekommen war. Bodenlose Schächte gähnten in den Gangwinkeln. Treppen verbargen sich unter Schutt und Trümmern. Gewundene Korridore öffneten sich in Gewölbesäle, erfüllt von einer Finsternis, die so alt und ewig war, dass Lampen und Fackeln dagegen machtlos erschienen.