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Niemand sprach, während sie dem Gang folgten. Hinter Lucien gingen Fay und Whisper, die bleichen Schwestern, vor ihm Aziel und Seth. Eine Flamme brannte in der geöffneten Hand des Incubus und überzog das uralte Mauerwerk mit einem orangefarbenen Schein. Nicht, dass Licht wirklich nötig gewesen wäre - sie alle konnten im Dunkeln sehen. Aber manchmal erklangen Geräusche aus der Ferne, Schritte und zischende Stimmen, die sie daran erinnerten, dass sie nicht allein waren. Und wenn die Bewohner dieser nachtschwarzen Kavernen eines hassten, dann Helligkeit.

Trotzdem wunderte es Lucien, dass ihnen noch keine Ghule begegnet waren, abgesehen von jenen im Keller des Varietés. Der Madenkönig duldete keine Eindringlinge in seinem Reich. »Ich habe mit ihm eine Vereinbarung getroffen«, hatte Aziel gesagt, während sie in den Schlund des Hauptsammlers hinabgestiegen waren. »Warum dann das Licht?«, hatte Lucien gefragt, jedoch keine Antwort bekommen. Seitdem rechnete er hinter jeder Ecke mit Horden von gierigen Untoten.

Ghule... Kein Geschöpf verabscheute er mehr. Niemand wusste, woher sie kamen. Seit ein paar Jahren machten sie die Katakomben und Kanäle unsicher. Manchmal, wenn ihre Gier nach frischem Fleisch zu quälend wurde, wagten sie sich sogar an die Oberfläche und durchstreiften die nächtlichen Gassen der Grambeuge. Um die Plage einzudämmen, hatte Lady Sarka einmal eine Abteilung ihrer besten Soldaten in die Tunnel geschickt. Die eine Hälfte der Männer war Tage später schwer verletzt oder dem Wahnsinn nahe zurückgekehrt, die andere wurde bis heute vermisst. Auf weitere Expeditionen in die Unterwelt Bradosts hatte die Lady daraufhin verzichtet. Was bedeutete schon das Wohlergehen von ein paar Tausend Armen, Bettlern und Schlammtauchern gegen das Leben ihrer Soldaten?

»Sind wir nicht bald da?«, fragte Lucien.

»Ja«, sagte Aziel leise.

Kurz darauf öffnete sich der Tunnel in einen unterirdischen Saal. Die Flamme in Seths Hand loderte auf, wurde fast weiß und trieb die Dunkelheit in Ecken und Winkel zurück. Mächtige Säulen in bizarren Formen tauchten auf. Eine Treppe führte in die Halle hinab.

Ein fauliger Geruch stieg Lucien in die Nase. Verwesungsgestank. »Ghule!«, flüsterte er.

»Nein«, erwiderte Aziel und deutete auf etwas, das am Rande des Lichtscheines lag: ein Körper.

Die Vílen blieben am Eingang zurück, während die anderen die Treppe hinabstiegen. Lucien war froh, die beiden schweigsamen Frauen nicht mehr hinter sich zu haben. Die Kälte, die sie verströmten, ließ ihn schaudern.

Neben dem Körper ging er in die Hocke. Ein Alb, der bereits so stark verwest war, dass die Knochen zum Vorschein kamen. Seine Hornmaske lag in zwei Teile zerbrochen neben ihm, ebenso die Lanze. In der Nähe entdeckte er noch mehr Leichen, insgesamt vier. Lucien verspürte einen schmerzhaften Stich. Ein toter Alb war kein alltäglicher Anblick. Normalerweise lebten Lucien und Seinesgleichen ewig.

Seth ließ mehrere Feuersäulen entstehen, woraufhin flackerndes Licht den Felsendom erhellte. Lucien blickte hinauf zu den Ketten, die wie riesige Wurzelfäden von der Decke hingen. Die Kugel, die sie hundert Jahre lang gehalten hatten, lag zersplittert auf dem steinernen Podest.

Ein schreckliches Gefängnis, dachte er. Kein Wunder, dass der Harlekin so voller Hass war.

Er schritt zu Aziel, der die glasartigen Bruchstücke der Kugel untersuchte. »Hat der Harlekin sie umgebracht?«

»Sie waren schon tot, als er aus der Kugel stieg.«

»Woher willst du das wissen?«

»Hier«, sagte Aziel und ging zu einer Leiche. »Schusswunden.«

Lucien betrachtete die beiden Löcher im Wams des Toten. Aziel hatte recht: Wie hätte der Harlekin in seinem Kerker an eine Pistole kommen sollen? Außerdem hassten Alben Technik aller Art und verwendeten keine Feuerwaffen.

»Glaubst du mir jetzt?«

»Du meinst, der Harlekin ist nicht aus eigener Kraft freigekommen?«

»Jemand hat ihn herausgeholt«, knurrte Aziel. »Wer immer das war, ich will ihn finden.«

»Wieso fragen wir nicht deinen Freund, den Madenkönig?«

»Er hat nichts gesehen. Oder er wollte nichts sehen, da bin ich mir nicht so sicher. Hier ist die Lampe. Finde heraus, wer sie dem Harlekin gegeben hat.«

Lucien nahm das zerbrochene Glas an sich und betrachtete es im Schein der Feuersäulen. Es schimmerte, als erwache das schreckliche Licht, das darin gefangen gewesen war, zu neuem Leben.

Ihm fiel nur eine Person ein, die genug von solchen Dingen verstand, um mehr über Jernigans Lampe wissen zu können.

Unglücklicherweise versuchte dieselbe Person seit zehn Jahren, ihn zu töten.

14

Dornen und Basilisken

»Ja«, ertönte Jocelyns mürrische Stimme.

Liam öffnete die Tür und betrat das Arbeitszimmer. Es war vollgestopft mit Büchern und Schriftrollen, die sich ohne erkennbare Ordnung in den Regalen stapelten. Eine Kerze brannte, obwohl die Sonne durch ein kleines Bleiglasfenster hereinschien. Aber in Jocelyns Kammer wurde es nie richtig hell. Was für den gesamten Palast galt, wie Liam schon am ersten Tag aufgefallen war.

Der Hausdiener hielt eine Schreibfeder in der Hand und saß an seinem Schreibtisch, auf dem sich Listen, aufgeschlagene Hefte und Pergamentstapel türmten. Missmutig blickte er Liam an. »Was willst du?«

»Hume schickt mich. Er braucht den Schlüssel zum hinteren Keller.«

»Wofür?«

»Hat er mir nicht gesagt.«

Schnaubend stand Jocelyn auf und öffnete einen Holzkasten an der Wand, in dem diverse Schlüssel unterschiedlichster Form und Größe hingen. Einen nahm er vom Haken, ein schweres Exemplar aus angelaufenem Eisen. »Da. Richte Hume aus, dass er ihn spätestens heute Abend zurückbringen soll. Und jetzt verschwinde, ich habe zu tun.«

Jocelyns Arroganz ging Liam zunehmend auf die Nerven, obwohl er inzwischen wusste, dass der Hausdiener all seine Untergebenen herablassend behandelte, nicht nur ihn. Aber er wollte unauffällig bleiben, und das erreichte er nicht, indem er Streit anfing. Also schluckte er eine bissige Bemerkung hinunter, murmelte unterwürfig »Danke« und schloss die Tür hinter sich.

Es war Liams dritter Tag im Palast. Bisher hatte er nichts anderes getan, als sich mit der Arbeit im Garten vertraut zu machen und die Palastbewohner kennenzulernen. Er wollte nichts überstürzen, so sehr er auch darauf brannte, sich nach dem Buch umzusehen. Der Palast war groß und unübersichtlich; überall konnte man unversehens Spiegelmännern über den Weg laufen. Er musste sich erst besser darin auskennen, bevor er sich auf die Suche machte. Deshalb übernahm er mit Vorliebe Botengänge für Hume oder andere Aufgaben, die von ihm verlangten, etwas aus dem Anwesen zu holen oder dort abzuliefern, denn dadurch konnte er sich nach und nach einen Überblick über das Gebäude verschaffen. Auf diese Weise prägte er sich ein, welcher Flur zu welchem Flügel führte und wo er überall mit Wachen rechnen musste.

Er schob den Schlüssel in seine Hosentasche und sah sich in einem Korridor um, der an Jocelyns Büro angrenzte und in dem er noch nicht gewesen war. Allerdings stieß er nur auf leere Zimmer. Nachdem er hier und da einen Blick hineingeworfen hatte, ging er zu Hume zurück.

Der Gärtner hielt sich im Gewölbekeller unter dem Gesindeflügel auf und stöberte in den Kisten und Körben, die dort kreuz und quer herumstanden. Staub wirbelte im Lichtkegel seiner Karbidlampe. Liam gab ihm den Schlüssel, den Hume in seiner Schürze verschwinden ließ. »Ich habe hier noch eine Weile zu tun«, sagte der Gärtner. »Hol dir Werkzeug und fang schon mal mit der Hecke an. Jackon soll dir helfen.«