Liam nickte. »Wir sollen sie ausreißen, nehme ich an.«
»Bis zur letzten Wurzel. Ich kann sie nicht mehr sehen. Und den Baumstumpf auch. Bevor der Herbst kommt, will ich dort Rasen anlegen.«
Liam verließ den Keller und fand Jackon hinter dem Heckenlabyrinth, wo er eine Vogeltränke von Moos und Flechten reinigte. Gemeinsam beluden sie eine Karre mit Hacken, Spaten und Äxten und schoben sie zur Brombeerhecke, die Hume meinte. Eigentlich war es gar keine richtige Hecke, sondern ein undurchdringliches Gestrüpp aus verschlungenen Dornensträngen, die eine Fläche von zehn mal zehn Schritt bedeckte. Eine verwitterte Statue stand inmitten des Dickichts. Sie stellte einen Basilisken dar, ein Mischwesen mit Flügeln, dem Körper eines Reptils und dem Kopf eines Hahns. Efeu wuchs am Sockel empor und rankte sich um den steinernen Schlangenleib.
Die Hecke musste jahrelang gewuchert sein, ohne dass sich jemand darum gekümmert hatte. Da Hume nun über zwei Gehilfen verfügte, war er fest entschlossen, den Garten auf Vordermann zu bringen - angefangen mit dieser verwilderten Ecke.
Liam und Jackon griffen sich Äxte und rückten dem Dickicht von zwei Seiten zu Leibe. Es war nicht ganz so heiß wie an den vergangenen Tagen, was die Arbeit erleichterte. Ein seltsames Licht lag über der Stadt. Dächer und Kuppeln zeichneten sich scharf umrissen gegen den stahlblauen Himmel und den Aetherdunst aus den Schloten des Kessels ab. Die dunklen Konturen des Wasserturms im Süden der Altstadt glichen einer geballten Faust.
Liam arbeitete gern mit Jackon zusammen. In den vergangenen Tagen hatte er den Rothaarigen ein wenig kennengelernt und erfahren, dass dieser auch erst seit ein paar Tagen im Palast lebte. Jackon war ein angenehmer und zurückhaltender Zeitgenosse, der ihn nicht mit Fragen belästigte. Lediglich am ersten Abend, als Liams Geschichte im Gemeinschaftsraum die Runde machte, hatte er versucht, ihn auszufragen - natürlich war der Rothaarige genauso neugierig auf den Neffen des berühmten Nestor Quindal wie die anderen Bediensteten. Liam hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er nicht über seine Vergangenheit sprechen wollte, obwohl er wusste, dass er seinen neuen Gefährten damit wahrscheinlich vor den Kopf stieß. Doch Jackon war nicht beleidigt. Er respektierte seine Verschlossenheit und hörte auf, ihn zu bedrängen.
Die Arbeit ging gut voran. Am frühen Nachmittag hatten sie die Fläche vollständig gerodet. Gestrüpp und Dornenranken bildeten einen mannshohen Haufen auf der Wiese. Die Basiliskenstatue ragte einsam inmitten der zerwühlten Erde auf, wodurch das Steingeschöpf Liam noch grotesker erschien. Offenbar hatte hier früher ein Gebäude gestanden: Zwischen den Wurzeln waren sie überall auf Mauerreste gestoßen. Vielleicht ein alter Schuppen, vermutete er, oder ein Pferdestall.
»Ist noch Wasser da?«, fragte Jackon, nachdem sie die letzten Ranken aufgesammelt hatten.
Liam reichte ihm die Flasche.
Der Rothaarige trank einen Schluck und deutete auf die verwitterten Mauerstücke. »Was ist damit? Sollen wir die ganzen Steine ausgraben?«
»Davon hat Hume nichts gesagt. Warten wir besser, bis er da ist. Komm, nehmen wir uns die Wurzel vor.«
Sie holten ihr Werkzeug und stapften zu den Überresten des Baums am Rand des gerodeten Feldes. Er musste bereits vor mehreren Jahren abgesägt worden sein, denn der Stumpf war so morsch, dass sich nicht mehr feststellen ließ, was für ein Baum es gewesen war. Ein dicker, nur so viel konnte Liam sagen; allein hätte er den Stamm nicht umspannen können. Seine Wurzeln reichten vermutlich tief in die Erde. Sie zu entfernen würde nicht leicht werden.
Sie zerhackten den Stumpf, bis er nur noch halb so groß war. Das tiefer liegende Wurzelwerk gruben sie aus. Es war eine mühsame Arbeit, denn das Erdreich war von Wurzelfasern durchsetzt, sodass man den Spaten nur mit großem Krafteinsatz hineinstoßen konnte. Als sie etwa anderthalb Fuß tief gegraben hatten, stießen sie auf Stein, offenbar die Grundmauern des alten Gebäudes. Die Baumwurzeln klammerten sich daran fest.
Jackons Gesicht war rot vor Anstrengung und Frustration. »Das haben wir gleich«, schnaubte er. »Gib mir die Axt.«
Liam holte ihm das Werkzeug. Der Rothaarige begann, auf die Wurzeln einzuhacken.
»Warte. Ich weiß nicht, ob das so gut ist.«
»Wieso nicht?«
»Das klingt irgendwie... hohl, findest du nicht?«
»Ist mir egal, wie das klingt.« Verbissen arbeitete Jackon weiter.
Jedes Mal, wenn die Axtklinge eine Wurzel durchtrennte und auf das Mauerwerk darunter traf, war Liam, als würde kaum merklich der Boden unter seinen Füßen vibrieren. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf, aber Jackon war fast fertig, und er wollte ihn nicht unterbrechen.
»So«, meinte der Rothaarige. »Ich glaube, der Stumpf ist jetzt locker. Hilf mir mal.« Er warf die Axt weg und trieb die Schaufel unter die Wurzeln, den Schaft als Hebel benutzend. Gleichzeitig stellte sich Liam breitbeinig auf den Rand der kleinen Grube, packte die Reste des Strunks von oben und zog.
Der Baumstumpf bewegte sich etwas, saß aber immer noch fest. Jackon trat dagegen, während er mit der Schaufel hebelte.
Ein Knirschen erklang.
Liam ließ den Stumpf los und keuchte: »Hör sofort auf!«
»Nein, wir haben es gleich. Nur noch ein bisschen...«
Der Rothaarige trat weiter. Es knirschte wieder - und plötzlich sackte der Stumpf weg, verschwand in einer klaffenden Öffnung. Jackon blieb der Triumphschrei im Hals stecken, als er das Gleichgewicht verlor. »Liam!«, ächzte er und ruderte mit den Armen. Liam bekam das Hemd seines Gefährten zu fassen und spürte gleichzeitig, dass das Erdreich, auf dem er kniete, ins Rutschen geriet. Er konnte nicht verhindern, dass Jackon von der Öffnung verschluckt wurde.
Im nächsten Moment gab der Boden unter ihm nach.
Es war kein tiefer Sturz. Dennoch keuchte Liam vor Schmerz, als er auf den Füßen landete und hinfiel. Instinktiv rollte er sich zur Seite, denn es regnete Steine und Sand. Schützend vergrub er seinen Kopf in den Armen und rechnete jeden Augenblick damit, von einem mühlradgroßen Mauerstück getroffen zu werden. Doch nichts dergleichen geschah. Kurz darauf verklang das Grollen von bröckelndem Stein.
Vorsichtig hob er den Kopf. »Jackon?«, rief er leise in die Dunkelheit.
Keine Antwort.
Liam rappelte sich auf. Sand rieselte von seinen Kleidern. Außer einigen Kratzern und Prellungen schien er sich keine Verletzungen zugezogen zu haben. Vor ihm lag ein Haufen aus Steinen und Erde, aus dem der Baumstumpf ragte. Darüber, in einer Höhe von vier Schritt, klaffte ein unförmiges Loch, durch das ein Ausschnitt des Himmels zu sehen war.
»Jackon?«, rief er noch einmal. »Bist du in Ordnung?«
Wieder keine Antwort.
Panik stieg in ihm auf. War Jackon verletzt? Oder, schlimmer noch, verschüttet worden?
Plötzlich hörte er ein Stöhnen, und auf der anderen Seite des Schutthaufens regte sich ein Schemen. Erleichtert eilte Liam hin und half Jackon aufzustehen.
»Geht es dir gut?«
Der Rothaarige war noch sichtlich benommen. »Ich glaube schon«, murmelte er, rieb sich Sand aus dem Gesicht und blinzelte. »Was ist eigentlich passiert?«
Liam blickte sich um. Was er zunächst für ein Loch oder einen alten Brunnen gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein größerer Raum. Er konnte steinerne Rippenbögen erkennen, die in der Dunkelheit verschwanden. Offenbar hatten sie durch ihre unvorsichtige Arbeit an der Baumwurzel ein Loch in die Gewölbedecke gebrochen. »Sieht so aus, als wären wir in eine Art Keller gefallen.«
»Keller wovon?«
»Dem Gebäude, das früher hier stand.«
Jackons Schritte knirschten, als er über den schuttbedeckten Boden ging. »Sieh mal. Hier sind Kisten. Und Schränke.«