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Sie suchten Raum für Raum ab, in der Hoffnung, dass diese Gewölbe mit dem Palastkeller verbunden waren. Doch alles, was sie fanden, war ein zugemauerter Durchgang.

Niedergeschlagen setzte sich Liam auf eine Kiste. »Und jetzt?«

Jackon trieb sich im hinteren Teil des Raumes herum. Aus einem Tischbein und einigen halbwegs trockenen Lumpen hatte er sich eine zweite Fackel gemacht. »Du darfst nicht so schnell aufgeben.«

Es war Liam schon vor einer Weile aufgefallen, dass die Dunkelheit und die stickige Luft seinem Gefährten nicht halb so viel ausmachten wie ihm. Manchmal erschien es ihm sogar, als würde sich Jackon hier unten wohlfühlen. »Vergiss es. Wir sitzen fest.«

»Glaube ich nicht.« Der Rothaarige zwängte sich durch die kaum anderthalb Schritt hohe Öffnung, die in den Nebenraum führte. Liam seufzte.

Er hatte mit allen möglichen Gefahren gerechnet, als er in den Palast gekommen war, hatte sich damit abgefunden, dass er vielleicht von den Spiegelmännern getötet oder von Corvas ins Gefängnis geworfen wurde, wenn er einen Fehler machte. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, dass ihm ein dummes Missgeschick bei der Gartenarbeit zum Verhängnis werden könnte. Nun würde er in diesem Keller verrotten, ohne auch nur in die Nähe des Gelben Buches gekommen zu sein. Und alles wegen einer verdammten Baumwurzel. Was für ein erbärmliches Ende.

»Liam«, rief Jackon. »Komm mal her.«

Müde stand Liam auf und trat ebenfalls durch den schmalen Durchgang.

Der Rothaarige stand vor einer Wand, vor der sich Gerümpel auftürmte. »Hier muss es irgendwo einen Ausgang geben.«

»Wieso?«

»Spürst du nicht den Luftzug?«

Liam spürte gar nichts, aber er sah, dass seine Fackel aufloderte.

Jackon stemmte sich gegen einen Blechschrank. Liam legte behutsam seine Fackel weg, damit sie nicht ausging, und half ihm, den Spind wegzuschieben.

Dahinter kam eine kreisrunde Öffnung zum Vorschein.

»Siehst du?«, meinte Jackon grinsend.

Liam leuchtete mit seiner Fackel in das gemauerte Loch. Rostige Stümpfe deuteten darauf hin, dass es einst vergittert gewesen war. Dahinter erstreckte sich ein Gang, der sich nach einigen Schritten in der Dunkelheit verlor. Anders als der Keller bestand er aus Ziegelsteinen.

Wenn ihn sein Orientierungssinn nicht gänzlich verlassen hatte, führte der Tunnel vom Palast weg.

»Wahrscheinlich gehört der Gang zum Abwassersystem«, sagte Jackon. »Hör genau hin. Irgendwo rauscht Wasser.«

Liam wusste, dass viele Häuser in Scotia eine Verbindung zur Unterwelt Bradosts aufwiesen. Für die Altstadt mit ihren jahrhundertealten Anwesen galt das vermutlich in gleichem Maß.

Er schöpfte neuen Mut. Vielleicht waren sie doch noch nicht verloren.

»Also gut«, sagte er. »Nach dir, wenn ich bitten darf.«

Nacheinander schlüpften sie durch das Loch und folgten dem Gang. Jackon behielt recht mit seiner Vermutung: Als der Tunnel abknickte, trafen sie auf einen Raum, in dem sich Abwässer sammelten. Jenseits eines rostigen Geländers gähnte ein Schacht, in den aus diversen Rohren stinkende Brühe stürzte und rauschend in der schwarzen Tiefe verschwand. Über ihren Köpfen verliefen dicke Leitungen aus Stein. Sie gehörten zur Frischwasserversorgung der Stadt, erklärte Jackon, und verbanden die Wassertürme mit den einzelnen Brunnen und Häuserblocks.

Als sie den Sammler durchquerten, bemerkte Liam, dass der Rothaarige sorgenvoll die Lippen zusammenpresste. »Was ist?«

»Die Fackeln. Sie sind gefährlich.«

»Wieso?«

»Manchmal bilden sich in den Kanälen brennbare Gase. Wenn man dann offenes Licht bei sich trägt...«

Liam schauderte, als er sich vorstellte, was Jackon nicht aussprach. »Kann man sich irgendwie davor schützen?«

»Wenn du etwas riechst, das dir verdächtig vorkommt, lösch sofort die Fackel.«

»Wie soll das gehen, Jackon? Hier stinkt es so sehr, dass man kaum Luft bekommt.«

»Versuch trotzdem, darauf zu achten. Es ist ein fauliger Geruch. Ein bisschen wie verdorbene Eier. Aber vielleicht haben wir Glück. Das Gas ist meistens nur in den tieferen Gängen.«

Wieder fiel Liam auf, wie sehr sich sein Gefährte in der letzten Stunde verändert hatte. Bei der Arbeit im Garten und während der Mahlzeiten mit den anderen Bediensteten war Jackon stets schüchtern und versuchte, nicht aufzufallen. Hier unten dagegen wirkte er sicher und selbstbewusst, als könnten ihm die Dunkelheit und die Gefahren dieser Tunnel nichts anhaben.

Sie stiegen eine Treppe hinab, deren Eisenstufen bei jedem Schritt unheilvoll knarrten und quietschten. Danach wurde der Gang noch niedriger. Außerdem mussten sie hintereinander gehen, denn mehr als die Hälfte des Tunnels wurde von einem Kanal eingenommen, durch den ein stinkendes Rinnsal floss. Jackon übernahm die Führung.

»Du scheinst dich hier drin auszukennen«, meinte Liam.

Der Rothaarige warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Wie kommst du darauf?«

»Nun ja... Die Sache mit dem Gas und die ganzen anderen Dinge, über die du Bescheid weißt. Das ist nicht gerade Allgemeinbildung, oder?«

Jackon schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: »Mein Vater hat in den Kanälen gearbeitet. Er hat mir das eine oder andere beigebracht.«

Liam gab sich mit dieser Antwort zufrieden, obwohl er spürte, dass der Rothaarige ihm etwas verschwieg. Jackon belästigte ihn nicht mit Fragen, also würde er es umgekehrt genauso halten.

Der Gang endete an einer gusseisernen Luke, deren Riegel sich mit etwas Mühe öffnen ließ. Dahinter kreuzte ein weiterer Kanal ihren Weg, in dem klares Wasser mit beachtlicher Geschwindigkeit dahinströmte. Offenbar waren sie auf einen unterirdischen Nebenarm des Rodis gestoßen.

Ein rostiger Steg überspannte den vier Schritt breiten Wasserlauf. Er besaß nur auf einer Seite einen Handlauf, der obendrein verbogen und unbrauchbar war.

Voller Unbehagen betrachtete Liam die wenig vertrauenerweckende Brücke. Zwar konnte er schwimmen, wenn es sein musste, aber nicht besonders gut.

»Wir müssen da rüber«, sagte Jackon.

»Gibt es keinen anderen Weg?«

»Ich habe keinen gesehen. Es sei denn, du willst durch die Abwasserrohre kriechen. Warte. Ich gehe zuerst.«

Jackon begann, über den Steg zu balancieren, Schritt für Schritt, so vorsichtig wie möglich. Als er die Mitte erreichte, neigte sich die Blechkonstruktion plötzlich quietschend zur Seite. Liam sog scharf den Atem ein und sah seinen Gefährten schon im Wasser verschwinden, doch Jackon hatte sich blitzschnell am Handlauf festgehalten und sein Gleichgewicht zurückgewonnen. Wohlbehalten kam er auf der anderen Seite an.

»Jetzt du.«

Liam schluckte trocken. Dann setzte er seinen Fuß auf die Brücke.

Rostpartikel rieselten ins Wasser, wenn er nur minimal sein Gewicht verlagerte, doch wie durch ein Wunder trug ihn der Steg. Um nicht denselben Fehler wie Jackon zu begehen, vermied er es, auf den wackeligen Mittelteil zu treten, sondern machte einen großen Schritt. Diesmal schwankte die Konstruktion nur ein wenig. Liam wartete, bis sie zu quietschen aufgehört hatte, bevor er weiterging.

Als er noch eine Armlänge vom Ufer entfernt war, gab der Steg nach.

Metall ächzte ohrenbetäubend, und plötzlich stand er mit den Füßen in kaltem Wasser. Der vordere Teil der Brücke war aus der Verankerung gebrochen und schabte über die Kanalwand, als er nach unten rutschte. Liam ließ seine Fackel fallen und hielt sich reflexartig am Geländer fest. Jackon rief seinen Namen, fiel auf die Knie und streckte die Hand nach ihm aus, doch bevor Liam sie ergreifen konnte, brach das Stegsegment vollständig weg. Wasser schlug über ihm zusammen.

Hektisch ruderte er mit den Armen, bis sein Kopf die Wasseroberfläche durchstieß. Er kam nicht gegen die Strömung an und wurde mitgerissen. Jackon war bereits mehrere Schritte entfernt.