Aus dem Augenwinkel sah er, dass er auf eine schwarze Öffnung in der Wand zutrieb.
»Halt dich irgendwo fest!«, brüllte Jackon.
Liam gelang es, zur Kanalwand zu schwimmen. Seine Fingerkuppen fanden in den Mauerfugen Halt. Allerdings machte ihm die Kälte des Wassers zu schaffen. Seine Hände wurden bereits taub. Lange würde er sich nicht festhalten können.
Jackon konnte ihm nicht zu Hilfe kommen, denn der begehbare Teil des Kanals endete einen Schritt links und rechts des Stegs. Er beugte sich über den Sims und rief: »Schwimm gegen den Strom!«
Liam ließ die Mauer los und machte einige Schwimmzüge. Er erreichte damit jedoch nur, dass er noch weiter weggetrieben wurde. Die Strömung war einfach zu stark. Er kämpfte die aufkeimende Panik nieder und hielt sich abermals an der Wand fest.
Seine Gedanken überschlugen sich. Er durfte nicht aufgeben. Wenn er aufgab, war er verloren.
Jackon hatte die Fackel auf den Boden gelegt und schlüpfte aus seinen Schuhen. »Nicht!«, stieß Liam hervor, als er begriff, was sein Gefährte vorhatte. Jackon hörte nicht auf ihn. Kopfüber sprang er in den Kanal und verschwand im Wasser.
Hatte er den Verstand verloren? Genügte es nicht, dass einer von ihnen ertrank?
Jackon tauchte nicht wieder auf. Vermutlich hatte ihn die Strömung mitgerissen und in den dunklen Schlund gespült. Liam klammerte sich mit einer Hand fest und tastete sich mit der anderen vor, bis seine Finger Halt fanden. Auf diese Weise versuchte er, sich Stück für Stück an der Wand entlangzuziehen. Er konnte seine Hände kaum noch spüren. Nicht mehr lange, und ihn würden die Kräfte verlassen.
Da durchstieß ein roter Schopf die Fluten. Jackon spie einen Schwall Wasser aus, aber er schien wohlauf zu sein. Er hielt eine Art Stange in der Hand und rief etwas. Liam hatte Wasser in den Ohren und verstand nur: »Halte... ziehe dich...«
Er stieß sich von der Wand ab und schwamm mit all seiner verbliebenen Kraft gegen die Strömung an. Streckte die Hand aus, bis er die Stange berühren konnte.
»Halt dich fest!«, brüllte Jackon, ging unter und tauchte im nächsten Augenblick wieder auf. Das rote Haar klebte nass an seiner Stirn. Irgendwie gelang es ihm, sich gegen die Strömung zu behaupten.
Liam griff nach der Stange und erkannte im selben Moment, dass es sich um den Handlauf der Brücke handelte. Jackon hielt sich an den Resten des Stegs fest, sodass er sich an der Stange entlangziehen konnte.
Wenig später erreichte er den rettenden Sims. Jackon half ihm, aus dem Wasser zu klettern, bevor er ihm folgte. Benommen vor Entkräftung blieben sie nebeneinander auf dem Steinboden liegen und schöpften Atem.
»Bist du in Ordnung?«, erkundigte sich Jackon nach einer Weile.
Liam brachte nur ein Nicken zustande. Sein Körper war so schwer wie Blei. »Danke«, murmelte er irgendwann.
Der Rothaarige grinste, während er sich aufsetzte und nach seinen Schuhen griff. »Ich sollte dir bei Gelegenheit schwimmen beibringen.«
»Ich kann schwimmen!«
»O ja, und wie.«
Liam schnaubte. »Sehen wir lieber zu, dass wir hier rauskommen.«
»Gute Idee.«
Wider Erwarten gelang es Liam aufzustehen. Allmählich kehrte das Gefühl in seine Gliedmaßen zurück, was jedoch nur bedingt ein Gewinn war, denn nun begann er zu frieren. So gut er konnte, rieb er seinen nackten Oberkörper trocken und wärmte sich an den Flammen der Fackel auf.
Schließlich gingen sie weiter. Liam überließ Jackon die Führung und folgte ihm nachdenklich. Der Rothaarige hatte ihm das Leben gerettet. Und nicht nur das - er hatte sein eigenes Leben in Gefahr gebracht, als er ins Wasser gesprungen war. Obwohl sie sich gerade einmal ein paar Tage kannten.
Wie es schien, hatte Liam unverhofft einen Freund gefunden... und hätte es in seiner Verzweiflung und Trauer beinahe nicht bemerkt.
Kurz nach der zerstörten Brücke verzweigte sich der Tunnel. Abwasserkanäle und begehbare Wasserleitungen kreuzten den Gang, vergitterte Treppen und Schächte führten in die tiefer gelegenen Katakomben hinab. Jackon musste sich bei der Suche nach einem Ausgang ganz auf seinen Instinkt verlassen, denn in diesem Teil der städtischen Unterwelt war er noch nie gewesen. Sorgen bereiteten ihm außerdem die Schlammtaucher, die eine stillgelegte Zisterne in der Nähe des Flusses bewohnten und sich in den Kloaken unter der Altstadt herumtrieben. Wenn er ihnen begegnete, erkannten sie ihn womöglich als einen der Ihren, was Probleme nach sich ziehen konnte. Schließlich hielt Liam ihn für einen ehemaligen Plantagenarbeiter - und das sollte auch so bleiben.
Doch allen Schwierigkeiten und Gefahren zum Trotz fühlte er sich hier unten auf seltsame Weise wohl. Die Kanäle waren in gewisser Weise immer noch seine Heimat. Nicht, dass er sich hierher zurücksehnte - er hatte den Palast mit seinem Komfort zu schätzen gelernt und wollte nie mehr darauf verzichten. Das änderte jedoch nichts daran, dass ihn die Welt Lady Sarkas und ihrer Diener nach wie vor verwirrte und einschüchterte und ihm stets das Gefühl gab, alles falsch zu machen. In den Kanälen dagegen wusste er, wie man sich verhielt, er kannte ihre Tücken und Gesetzmäßigkeiten. Hier war er kein unbeholfener Tölpel, sondern ein gewitzter Überlebenskünstler, und er genoss es.
Sie blieben in den Haupttunneln, um sich nicht im Gewirr der Gänge zu verlaufen. Wenig später hörten sie gedämpftes Wummern und Stampfen, das mit jedem Schritt näher klang. Offenbar befanden sie sich am Rande des Kessels, dessen Maschinen die Erde zum Vibieren brachten.
Jackon entdeckte ein rotes Glühen, das aus einem Nebengang drang, und machte Liam darauf aufmerksam.
»Ein Ausgang?«, fragte der Blonde hoffnungsvoll.
»Sehen wir es uns an.«
Der Gang, durch den sie gehen mussten, war schmal, niedrig und unglaublich schmutzig. Wasser tropfte von der Decke, sodass sie schon nach ein paar Schritten von oben bis unten mit Rost und Schlamm bedeckt waren. An den Wänden klebte altes Öl. Jackon musste aufpassen, es nicht versehentlich mit seiner Fackel anzuzünden.
Das Glühen kam aus einem engen Deckenschacht. Eiserne Trittstufen führten darin empor. Oben konnte er ein Gitter ausmachen, durch das lautes Hämmern und Zischen klang. »Anscheinend führt er zu einer Manufaktur.«
»Worauf wartest du noch? Klettern wir rauf.«
Jackon hätte lieber nach einem anderen Ausgang gesucht, wo sie den Tunnel unbeobachtet verlassen konnten. Schließlich mochten die meisten Leute die Bewohner der Unterwelt nicht sonderlich oder hassten sie sogar. Aber Liam fror so sehr, dass er zitterte. Jackon konnte nicht von ihm verlangen, noch länger durch die Finsternis zu wandern.
Er warf die Fackel weg, die durch das tröpfelnde Wasser fast erloschen war, und kletterte die Sprossen hinauf.
Auf halbem Weg fragte er sich, ob dieser Schacht wirklich für Menschen angelegt worden war. Selbst ihm fiel es schwer, sich hindurchzuzwängen, und er war nicht gerade ein Hüne. Zu allem Überfluss waren die Wände von Schmieröl, Rost und Schlimmerem bedeckt. Als er das Gitter wegschob und hinauskletterte, gab es kaum noch eine Stelle seines Körpers, die nicht schmutzig war.
Er fand sich in einer Halle wieder, die in rotem Licht erglühte. Geschmolzenes Metall quoll aus einem Hochofen in verschiedene Gussformen. Arbeiter schoben glühende Barren in Maschinen aus Kettenzügen, Zahnrädern und stampfenden Kolben, die den Stahl pressten und schnitten und dabei fauchend goldene Aetherwolken ausstießen.
Hastig half er Liam aus dem Schacht. Gerade als sie zum Ausgang der Schmiede huschen wollten, bemerkten die Arbeiter sie.
Drei der Männer rissen angstvoll die Augen auf, ließen ihr Werkzeug fallen und ergriffen die Flucht. Der vierte starrte die beiden Eindringlinge voller Abscheu an. Mit einem Fluch auf den Lippen griff er nach einem Schürhaken und kam auf sie zu.
Obwohl Jackon mit solch einer Reaktion gerechnet hatte, war er so entsetzt, dass er nichts anderes tun konnte, als den wütenden Arbeiter anzuglotzen. Der Mann ließ den Schürhaken kreisen und hätte ihn mit voller Wucht am Kopf getroffen, wenn Liam nicht im letzten Moment nach vorne geschnellt wäre und ihm die Beine weggetreten hätte. Keuchend fiel der Arbeiter zu Boden. Liam griff nach dem Schürhaken und schwang ihn drohend über dem Kopf. Von Grauen erfüllt rappelte der Mann sich auf und floh.