Выбрать главу

Als die Sonne hinter dem Phönixturm versank, machte Jackon sich auf den Weg zu den Kanälen. Er entschied sich für einen Zugang im Hafenviertel, obwohl dies einen kleinen Umweg bedeutete. Aber nach dem Ärger mit Asher hatte er keine Lust, anderen Schlammtauchern zu begegnen. Schlimm genug, dass er jeden Abend mit ihnen in der Glasbläserei zusammentraf. Heute hatten sie ihn in Ruhe gelassen, vermutlich weil ihnen der Vorfall mit den Ghulen zu schaffen machte. An den meisten anderen Tagen hatte er nicht so viel Glück.

Bei den Kais stieg er eine steile Treppe hinab. Keinen halben Schritt über dem Fluss war ein schmiedeeisernes Tor in die Ufermauer eingelassen; braunes Wasser schwappte gegen die Schwelle. Jackon schlüpfte durch den Spalt zwischen den rostigen Torflügeln und betrat die Unterwelt von Bradost.

Er war in den Abwassertunneln aufgewachsen und kannte sie wie seine Westentasche; er brauchte kein Licht, um sich darin zurechtzufinden. Außerdem war offenes Licht gefährlich: Manchmal bildeten sich faulige Dämpfe in den Tunneln, die sich leicht entzündeten und Gänge zum Einsturz brachten, wenn sie explodierten. Deshalb hausten die meisten Schlammtaucher in den Katakomben unter der Altstadt oder in Flussnähe, wo frische Luft in die Tunnel drang. In der Nähe des Hauptsammlers, wo es besonders gefährlich war, lebten nur die Ausgestoßenen: Mörder, Verrückte, Cholerakranke, Leute, die sich vor den Spiegelmännern versteckten - und Jackon.

Er gelangte in eine Abwasserleitung, der er stadteinwärts folgte, indem er sich auf dem steinernen Steg neben dem Abwasserstrom hielt, seine Schritte zählte und auf die Geräusche in der Dunkelheit achtete. Als er den breiteren Haupttunnel erreichte, stieg er eine eiserne Leiter hinab und zwängte sich durch die zertrümmerten Überreste eines hydraulischen Tores. Sein Weg führte ihn durch Gänge und Hallen, die nur noch teilweise zum Abwassersystem Bradosts gehörten: uralte Zisternen, Keller und Schächte aufgegebener Manufakturen, vom Fluss ausgewaschene Höhlen, Kasematten vergessener Festungsanlagen. Nicht einmal Jackon wusste, wohin all diese Tunnel und Stollen führten. Einige waren viele Meilen lang und erstreckten sich angeblich bis zu den alten Grabgängen und Beinhäusern tief unter der Stadt.

Schließlich hörte er ein vertrautes Rauschen, das sich zu einem ohrenbetäubenden Tosen steigerte, als der Tunnel in den Hauptsammler mündete.

Obwohl Jackon daran gewöhnt war, raubte ihm der Gestank schier den Atem. Aus mehr als einem Dutzend Leitungen stürzten die Abwässer in die gewaltige Zisterne, die mit ihren gemauerten Bögen und steinernen Rippen einer unterirdischen Kathedrale ähnelte. Fahles Licht aus einem Deckenschacht fiel auf Simse, Treppenfluchten und gusseiserne Geländer, bis es sich in der Dunkelheit verlor.

Jackon fürchtete sich nicht vor der Finsternis; dennoch pochte sein Herz bis zum Hals, als er einem der Simse folgte. Denn er kannte die Gefahren, die dort unten in der Tiefe lauerten, nur zu gut.

Er kletterte in eine mannshohe Abwasserleitung, und Erleichterung durchströmte ihn beim Anblick des fernen Lichtscheins. Einige Tunnelbewohner besaßen Gaslaternen, bei denen keine Gefahr bestand, dass sie die Dämpfe in den Gängen entzündeten. Ihre Besitzer löschten sie nie - die Ghule hassten helles Licht.

Jackons Behausung befand sich am äußersten Rand der beleuchteten Tunnel, denn nicht einmal die Ausgestoßenen duldeten ihn in ihrer Nähe. Im Kanal waren seine Netze aufgespannt. Er überprüfte, ob sich etwas darin verfangen hatte, während er fort war, fand zu seiner Enttäuschung jedoch nur ein paar Knochen. Er stopfte sie in seinen Beutel, kletterte über die Planke, die über dem Abwasserstrom lag, und schlüpfte in eine Öffnung in der Tunnelwand. Dahinter befand sich sein Zuhause: eine kleine Kammer mit einigen Kisten, einem Bett aus strohgefüllten Säcken und einer rostigen Leiter, die zu einem Luftschacht führte.

Er hatte im Tunnel keine Dämpfe gerochen und entschied, dass er ein wenig Licht riskieren konnte. Er zog eine Kiste hervor, die seine Schätze enthielt; Dinge, die er im Lauf der Jahre gefunden, gestohlen oder aus dem Kanal gefischt hatte: einen Kavalleriesäbel mit abgebrochener Klinge, ein Ersatznetz, eine löchrige Hose, einen Feuerstein und einen Kerzenstummel.

Mit dem Feuerstein und einigen Holzspänen zündete er die Kerze an und setzte sich auf das Schlaflager.

Aus der Dunkelheit seiner Kammer schälte sich eine Gestalt.

Jackon keuchte vor Entsetzen auf und griff nach dem Säbel; dabei ließ er die Kerze fallen. Er hörte ein wütendes Knurren, dann packten ihn kräftige Hände am Hemdkragen und zogen ihn auf die Füße, bevor er den Säbel zu fassen bekam.

Der flackernde Kerzenschein fiel auf ein entstelltes Gesicht. Hinter der fliehenden Stirn standen die Haare in alle Richtungen ab. Ein fauliger Geruch, widerwärtiger noch als der Gestank des Abwassers, schlug ihm entgegen.

»Da bist du ja, du Wicht. Dachte schon, du hättest dich vor Angst verkrochen.«

Darren!, begriff Jackon erleichtert, während er nach Luft schnappte. Es ist nur Darren!

Dann wurde ihm klar, dass dies nicht unbedingt Anlass zur Erleichterung bot.

Seine Füße scharrten über den Boden. Vergeblich versuchte er, sich aus dem eisernen Griff zu befreien.

»Wie oft hat Darren dir gesagt, du sollst ihn in Ruhe lassen? Na?«

»Hab nichts gemacht«, ächzte Jackon, was den Eindringling veranlasste, ihn so heftig zu schütteln, dass seine Zähne aufeinanderschlugen.

»Dreckiger Lügner! Gestern Nacht warst du wieder in Darrens Kopf.«

»Ich weiß nicht, was du...« Der Rest des Satzes blieb Jackon im Hals stecken, als Darren ihn auf die Strohsäcke schleuderte. Dann beugte sich der Hüne über ihn und bleckte seine verfaulten Zahnstümpfe. Die beiden Hälften seines Gesichts passten nicht richtig zusammen: Das rechte Auge befand sich nicht auf der gleichen Höhe wie das linke, eine Wange hing herunter, als gäbe es keine Muskeln, die ihr Form verliehen.

»Das passiert, wenn man Darren wütend macht«, knurrte der Missgestaltete und trat gegen eine Kiste, sodass sie in den Kanal fiel.

»Nicht meine Sachen!«, rief Jackon. Er stürzte zum Ausgang der Kammer, bekam die Kiste jedoch nicht mehr zu fassen und konnte nur noch dabei zusehen, wie sie fortgespült wurde.

Darren packte ihn am Nacken und zog ihn zurück in die Kammer, wo er ihn auf den Boden schleuderte. »Merk dir das, du kleiner Hurensohn. Beim nächsten Mal wirft Darren dich hinein.«

Mit schweren Schritten stapfte der Hüne über die Planke und beförderte das Brett mit einem Tritt in die Brühe, bevor er davonschlurfte und Jackon die Ghule an den Hals wünschte.

Jackon rieb seinen schmerzenden Nacken... bis er verbranntes Stroh roch. Fluchend wirbelte er herum, schüttelte die Kerze vom Strohsack herunter und trat die Flammen aus. Dann hob er die Kerze auf, die in dem ganzen Durcheinander erloschen war, zündete sie an einem glimmenden Halm an und stellte sie behutsam in eine kleine Nische im Mauerwerk. Sie war alles, was er noch besaß, abgesehen von den Säcken und den Kleidern am Leib. Seine Kiste, der Säbel und der Rest seiner Sachen waren im Schlund des Hauptsammlers verschwunden. Nicht einmal die Planke hat er mir gelassen, dachte er niedergeschlagen.

Er setzte sich auf sein Schlaflager und versuchte, seinen knurrenden Magen zu ignorieren.

Wenigstens das Netz hatte er noch. Ohne das Netz taugte er nicht einmal mehr zum Schlammtaucher und könnte sich ebenso gut in den Hauptsammler stürzen. Er konnte nur hoffen, dass sich in den nächsten Tagen ein paar brauchbare Dinge darin verfingen, denn er benötigte dringend eine neue Planke und vor allem etwas zu essen. Allein mit den Knochen und Leinenresten kam er nicht mehr weit, denn es war abzusehen, dass Asher die Preise weiter drücken würde.