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»Danke«, ächzte Jackon.

Nun war es Liam, der grinsen musste. »Ich glaube, jetzt sind wir quitt.« Der Blonde half ihm auf. »Verschwinden wir, bevor sie zurückkommen.«

Unbemerkt von den Arbeitern hasteten sie im rot glühenden Zwielicht zu einer Hintertür, durch die sie in eine Gasse zwischen zwei Ziegelwänden gelangten, wo sich niemand aufhielt.

Erschöpft lehnte sich Liam gegen eine Mauer. »Endlich«, sagte er. »Ich dachte schon, wir würden da nie rauskommen. Warum hat uns dieser Kerl angegriffen?«

»Ich glaube, er hat uns für Ghule gehalten.«

»Ghule? Soll das ein Witz sein?«

»Schau dich mal an.«

Liam sah an sich herunter. Genau wie Jackon bot er einen entsetzlichen Anblick: zerkratzt, durchnässt und schmutzig von Kopf bis Fuß. »Lieber Himmel«, murmelte er. »Die armen Arbeiter...«

Plötzlich musste Jackon lachen - warum, wusste er selbst nicht. Vielleicht weil ihm klar wurde, wie knapp er eben dem Tod entronnen war, vielleicht auch nur, weil er sich vorstellte, was für ein jämmerliches Bild sie beide abgeben mussten: zwei Gestalten in einer Gasse, dreckig und stinkend und fassungslos darüber, was sie gerade erlebt hatten. Er lachte, bis er keine Luft mehr bekam.

Und dann lachte auch Liam.

Verwundert starrte er Jackon an, bevor er zu kichern begann, zuerst ganz leise, dann immer lauter, bis er so sehr brüllte, dass ihm die Tränen herunterliefen. Schließlich kauerten sie nebeneinander auf dem Boden und hielten sich die Bäuche.

Als es Jackon endlich gelang aufzuhören, blickte er in das Gesicht des Arbeiters, der ihn angegriffen hatte. Der Mann hielt eine Axt in den Händen und wirkte verwirrt, genau wie der Hüne neben ihm.

»Das sollen Ghule sein?«, knurrte der Vorarbeiter. »Zwei verdammte Bettler sind das, du Dummkopf! Wolltest mich wohl zum Narren halten, was? Na warte, dafür ziehe ich dir einen Schilling vom Lohn ab. Und jetzt zurück an die Arbeit, oder ich trete dir in den Hintern...«

Einige Stunden später saß Jackon im Gemeinschaftsraum des Gesindetrakts und stärkte sich mit einer Tasse Kaffee. Er hatte sich ausgiebig gewaschen, seine Blessuren verarztet und frische Kleider angezogen. Jetzt fühlte er sich wieder einigermaßen sauber. Liam erzählte den anderen Bediensteten gerade zum zweiten Mal, was geschehen war, damit sie endlich aufhörten, sie mit Fragen zu bestürmen.

Es hatte eine Weile gedauert, bis sich die Aufregung im Palast gelegt hatte. Als Jackon und Liam zurückgekommen waren, hatten sie Hume und die anderen Bediensteten bei der Einsturzstelle vorgefunden - ein zehn Schritt durchmessender und zwei Schritt tiefer Krater -, wo sie im Schutt wühlten, in der Hoffnung, ein Lebenszeichen von Jackon und Liam zu finden. Wie sich herausstellte, hatte Hume gerade den Keller verlassen, als das Gewölbe einstürzte. Nachdem er begriffen hatte, was passiert war, hatte er umgehend die anderen Palastbewohner alarmiert. Auch jetzt war der Gärtner immer noch kreidebleich, denn der Schreck saß ihm tief in den Knochen. Außerdem war Umbra für eine halbe Stunde mit ihm verschwunden, vermutlich um ihm die Leviten zu lesen, weil Jackon seinetwegen in Gefahr geraten war. Jackon konnte sich lebhaft vorstellen, wie es sein musste, wenn Umbra wütend war. Hume tat ihm aufrichtig leid.

Was für ein seltsamer Tag... Um ein Haar wäre er von einer Gerölllawine begraben worden. Wenig später hätte man ihn fast mit einem Schürhaken erschlagen, kurz nachdem er bis zur Erschöpfung gegen einen reißenden Fluss gekämpft hatte. Alles nicht gerade erfreuliche Erlebnisse, und doch bereute Jackon keine Sekunde davon. Fast sein halbes Leben lang war er auf sich allein gestellt gewesen. Heute hatte er zum ersten Mal Hilfe von einem Gefährten bekommen. Gemeinsam Schwierigkeiten zu meistern gefiel ihm viel besser.

Er hatte noch nie einen Freund gehabt. Fühlte es sich so an, wenn man einen fand?

15

Das Ding in den Schatten

Die nächsten Tage waren heiß und trocken. Nur selten zeigte sich eine Wolke am Himmel über der Stadt oder sorgte eine Brise für Abkühlung. Eine träge, schläfrige Stimmung herrschte im Palast. Sogar die Krähen dösten und verließen kaum ihre Schlupflöcher im Dachgebälk.

Lady Sarka hatte Arbeiter angeheuert, die sämtliche Kellerräume des alten Laborgebäudes zuschütteten, damit es nicht noch einmal zu einem Einsturz kam. Ibbott Hume schien wegen des Vorfalls ein schlechtes Gewissen zu haben und gab Liam und Jackon nur noch leichte Arbeiten. Sie mähten den Rasen, jäteten Unkraut oder gossen die Rosenhecken, womit sie meist schon am frühen Nachmittag fertig waren. Den Rest des Tages ruhten sie sich aus, schlenderten durch die Altstadt oder badeten im Feuersee beim Magistratsgebäude. Es gefiel Liam, Zeit mit Jackon zu verbringen. Die gemeinsam überstandene Gefahr hatte sie zusammengeschweißt, und dank Jackon fühlte er sich nicht mehr ganz so einsam auf der Welt.

Dennoch verlor er niemals sein Ziel aus den Augen. So oft er konnte, sah er sich unauffällig im Palast um, bis er sich allmählich darin zurechtfand. Schließlich fühlte er sich bereit, nach dem Buch zu suchen.

Abends, bei Sonnenuntergang, traf er sich mit Jackon und den anderen Bediensteten im Gemeinschaftsraum. Auf dem Tisch standen Brot, Hartkäse, geräucherte Wurst und Ale. Jocelyn erzählte Neuigkeiten aus der Stadt, während gegessen wurde. Anschließend zogen sich die Bediensteten einer nach dem anderen in ihre Unterkünfte zurück, denn nach einem langen Arbeitstag und zwei Krügen Ale wollten die meisten nichts als schlafen. Jackon war einer der Ersten, der ging. Liam schloss sich ihm wenig später an, legte sich angezogen ins Bett und löschte das Licht.

Es dauerte nicht lange, bis Stille im Gesindeflügel einkehrte. Um sicherzugehen, wartete Liam noch eine halbe Stunde. Schließlich stand er auf, öffnete leise die Tür und trat barfüßig auf den Gang.

Dunkelheit erfüllte den Korridor. Durch das kleine Fenster am Ende war der Mond über den Dächern Bradosts zu sehen. In keiner der angrenzenden Kammern brannte noch Licht.

Liam durchquerte den Gemeinschaftsraum und folgte einem Flur, der zur Küche, der Wäscherei und den anderen Wirtschaftsräumen führte. Er wählte diesen Weg, um nicht durch die Eingangshalle gehen zu müssen, wo, wie er annahm, auch nachts Spiegelmänner Wache standen.

Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie viele Spiegelmänner sich im Palast aufhielten. Außer jenen in der Eingangshalle gab es zwei weitere am Tor der Palastmauer und gewiss noch viele andere in den Gemächern der Lady und anderen Gebäudetrakten, in die ein Hilfsgärtner wie er niemals einen Fuß setzte. Manchmal, etwa zur Wachablösung, zeigten sich auch welche im Garten. Wenn sie mit ihren Kutten und Spiegelmasken an ihm vorbeischritten, lief ihm stets ein kalter Schauder über den Rücken. Er würde sich niemals an ihre Anwesenheit gewöhnen, in hundert Jahren nicht.

Von der Küche gelangte er in einen Saal, der den größten Teil des Hauptflügels einnahm. Vermutlich wurden hier Bälle und Bankette abgehalten. Durch die Fenster war der Nachthimmel zu sehen; im Licht der Sterne erahnte Liam Tische, Lehnstühle und Vitrinen mit kostbarem Kristallgeschirr. Dicke Teppiche dämpften seine Schritte, sodass er sich erlaubte, etwas schneller zu gehen. Eine Holztreppe, die er hinaufstieg, knarrte, und er fürchtete, den ganzen Palast aufzuwecken. Oben angekommen, hielt er den Atem an und lauschte, doch es herrschte weiterhin Stille im Saal. Niemand schien ihn gehört zu haben.