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Auf leisen Sohlen huschte er die Galerie entlang, öffnete eine Tür und betrat kurz darauf den Korridor, der zum Kuppelsaal mit den Gemächern der Lady führte. Normalerweise gelangte man durch die Eingangshalle hierher. Auf den Weg durch den Bankettsaal war er zufällig gestoßen, als er in Humes Auftrag etwas aus der Küche geholt und sich danach ein wenig umgesehen hatte.

Er folgte dem Gang, bis er zu einer Biegung kam. Dort spähte er um die Ecke. Etwa zehn Schritte vor ihm begann die Treppe zur Pforte des Kuppelsaals. Davor hielten zwei Spiegelmänner Wache. Es gab keine Lampe, nicht einmal eine Kerze, und es hatte etwas Gespenstisches, wie die beiden Gestalten in der Dunkelheit des Korridors standen. Hätten sich nicht die Sterne in ihren Masken gespiegelt, wäre Liam vermutlich geradewegs in sie hineingelaufen.

Unmöglich, an ihnen vorbeizukommen. Er verbarg sich hinter der Gangecke und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Quindal hatte gesagt, dass die Lady das Buch mit großer Wahrscheinlichkeit im Kuppelsaal aufbewahrte. Allerdings war das nur eine Vermutung des Erfinders; ebenso gut konnte das Buch auch woanders sein.

Mutlosigkeit überkam Liam bei dem Gedanken, die zahllosen Zimmer des Palasts nach einem Folianten zu durchsuchen, von dem er nicht einmal wusste, wie er aussah. Nein, besser er hielt sich an den einzigen Hinweis, den er hatte. Er musste versuchen, in Lady Sarkas Bibliothek hineinzukommen.

Nur wie? Solange die beiden Spiegelmänner nicht verschwanden, war die Tür unerreichbar für ihn.

Er stand kurz davor umzukehren, überlegte es sich dann jedoch anders. Jetzt schon aufzugeben kam nicht infrage. Das schuldete er seinem Vater.

Nimm dir ein Beispiel an ihm. Er war hartnäckig. Anderthalb Jahre hat er seine Nachforschungen betrieben. Glaubst du, er musste währenddessen nie einen Rückschlag hinnehmen?

Ein schmerzhafter Gedanke schob sich Liam ins Bewusstsein: Und wohin hat ihn seine Beharrlichkeit am Ende geführt?

Er kämpfte die aufwallende Trauer nieder und zwang sich, noch einmal über seine Situation nachzudenken. Quindal hatte zugegeben, dass er nur wenig über den Palast wusste. Was, wenn er sich irrte? Wenn der Kuppelsaal noch einen weiteren Eingang besaß? Womöglich einen weniger gut bewachten? Bei der Größe des Gebäudes hielt Liam dies nicht für ausgeschlossen.

So leise, wie er gekommen war, machte er kehrt und ging zum Bankettsaal zurück. Da er das Erdgeschoss inzwischen einigermaßen kannte, beschloss er, in den oberen Stockwerken zu suchen. Dort war er allerdings noch nie gewesen, weshalb er noch vorsichtiger und aufmerksamer sein musste. Vor allem tat er gut daran, sich die Lage der Flure und Zimmer genau einzuprägen, damit er später wieder zurückfand.

Er kam in einen Trakt, der genauso still und menschenleer zu sein schien wie die meisten Teile des Anwesens. Es roch sogar verlassen: staubig, nach altem Holz und ersten Anzeichen von Moder. Liam versuchte sich nur an jenen Türen, von denen er glaubte, dass die Flure und Zimmer dahinter an den Kuppelsaal angrenzten. Keine Einzige war verschlossen, sie knarrten nicht einmal, was ihn jedes Mal aufs Neue überraschte. Ölte etwa jemand die Angeln dieser Türen, obwohl niemand sie je öffnete?

Einige der Räumlichkeiten, die er betrat, waren vollkommen leer. Andere enthielten alte Möbel, von einer dicken Staubschicht bedeckt. Wieder andere ein unübersichtliches Durcheinander aus aufeinandergestapelten Stühlen, Tischen, Truhen und Schränken, verborgen unter zerschlissenen Laken, die Liam unwillkürlich an Leichentücher erinnerten - doch nirgendwo fand er einen Zugang zum Kuppelsaal.

Nachdem er sicher war, dass er den Trakt vollständig abgesucht hatte, folgte er einem Gang zur anderen Seite des Anwesens und kam zu einer Tür. Als er sie öffnete, sah er im Schein des Mondlichtes, das durch ein nahes Fenster fiel, dass das Holz mit einer Schnitzerei versehen war: Sie stellte einen Basilisken dar und glich dem Relief, das er im Keller des alten Labors gefunden hatte.

Vorsichtig trat er auf eine Galerie mit eisernem Geländer und blickte in einen großen Raum hinab. Der Geruch, der ihm in die Nase stieg, war sehr schwach, aber überaus unangenehm. Es roch nach Kot, Schweiß und Erbrochenem - und nach Blut. Gebilde hingen an schweren Ketten von den Deckenbalken. Sein Mund wurde trocken vor Furcht, als er Rippenkästen und Schädel zu erkennen meinte. Skelette? Nein, Käfige. Manche waren der Form des menschlichen Körpers angepasst, doch es gab auch andere, kastenartige, mit dornenbewehrten Stangen.

Am Rande seines Blickfelds bemerkte er plötzlich eine Bewegung, ein Huschen in der Dunkelheit. Liam fuhr herum und horchte angestrengt. Nichts. Nur das Pochen seines Herzens. Vielleicht hatte er sich alles nur eingebildet. So angespannt, wie er war, wäre das kein Wunder.

Der nächste Raum war kleiner und enthielt einen steinernen Ofen sowie einen Tisch voller Apparaturen, deren Glasröhren und -kolben im Sternenlicht wie geschliffener Obsidian schimmerten. Eine alchymistische Küche. Allerdings sah sie nicht aus, als wäre sie noch in Gebrauch, wenngleich die absonderlichen Gerätschaften nach wie vor seltsame Düfte verströmten, schweflige, faulige und ganz und gar fremdartige.

Schaudernd dachte er an die Käfige im Nebenraum - Käfige in Menschenform. Er wagte sich nicht vorzustellen, welcher Art die Experimente gewesen waren, die einst hier stattgefunden hatten. Er konnte nur hoffen, dass diese Räumlichkeiten Relikte aus alter Zeit waren und nichts mit Lady Sarka zu tun hatten.

Ein Krächzen ließ ihn aufschrecken. Ein Oberlicht des Labors stand offen, auf dem Fensterrahmen hockte eine Krähe. Blitzschnell ging Liam hinter dem Tisch in Deckung. Er hatte Quindals Warnung nicht vergessen. Hoffentlich hatte ihn der Vogel nicht bemerkt.

Vorsichtig blickte er zum Fenster auf. Konnten Krähen im Dunkeln sehen? Er wünschte, er wüsste es. Allerdings machte das Tier nicht den Eindruck, als würde es ihn beobachten. Es pickte etwas auf, vielleicht ein Insekt, dann flatterte es kreischend davon. In diesem Moment flog ein ganzer Schwarm Krähen am Fenster vorbei, so viele, dass sie die Sterne über den Baumkronen verdunkelten, bevor sie verschwanden.

Liam wagte sich erst nach ein paar Minuten hinter dem Tisch hervor. Sein ganzes Vorhaben kam ihm immer törichter vor. Schierer Wahnsinn, in der Dunkelheit ein Gebäude zu erkunden, das er nur oberflächlich kannte. Hinter jeder Ecke konnte Gefahr lauern. Er beschloss, so schnell wie möglich den Rest des Flügels abzusuchen und es dann für den Anfang gut sein zu lassen.

Er huschte durch Flure und Korridore, bis er zu einer halb offenen Tür kam, durch die schwaches Licht fiel. Liam pirschte sich heran und erblickte einen Mann mit wallender schwarzer Mähne, der eine Kristallkaraffe von einer Kommode nahm und sich Absinth einschenkte, glitzernd wie ein geschmolzener Smaragd. Liam hatte diesen Mann gestern kurz im Garten gesehen und wusste von Jackon, dass er Amander hieß. Jackon schien Angst vor ihm zu haben, allerdings hatte er nicht herausbekommen, weswegen.

Amander betrat eine Kammer und schloss die Tür hinter sich. Liam hielt es für zu riskant, den beleuchteten Raum zu betreten, zumal er sich nichts davon versprach. Er kehrte um und stieg eine Treppe hinauf, an der er auf dem Weg hierher vorbeigekommen war.

Sein Gefühl sagte ihm, dass er sich ganz in der Nähe des Kuppelsaals befand, aber er wusste, dass er sich täuschen konnte. Bei all den verwinkelten Gangfluchten, Zwischengeschossen und gewundenen Wendeltreppen war es unmöglich, die Orientierung zu behalten, schon gar nicht bei Nacht. Sicher war nur, dass er sich im obersten Stockwerk aufhielt, denn Teile davon waren zum Dachgebälk hin offen. Jene Räume mied er, denn darin stank es nach Vogelkot, und er wollte um keinen Preis weiteren Krähen begegnen.

Er bog in einen Korridor ein - und hielt inne. Er hatte ein Geräusch gehört; es kam von der Treppe. Als er sich umwandte, erblickte er erneut eine Bewegung in der Dunkelheit. Nein, keine richtige Bewegung, eher ein kurzes Zucken der Schatten, doch diesmal war er sich sicher, dass er es sich nicht eingebildet hatte.