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Eine Krähe? Er hoffte es beinahe, denn die Vorstellung, dass ihm etwas durch die finsteren Flure folgte, ließ eisiges Grauen in ihm aufsteigen. Ratten? Möglich, bei diesem alten Gemäuer. Gewiss wimmelte es in den Wänden und Zwischenböden nur so von Nagetieren und anderem Ungeziefer.

Liam schluckte trocken. Wem wollte er eigentlich etwas vormachen? Keine Ratte verursachte solch ein Geräusch. Es war ein schleifender Laut gewesen, seltsam fleischig, als würde etwas Massiges über die Steinstufen kriechen.

Er versuchte, ruhig zu atmen, und wünschte, sein Herz würde nicht wie verrückt wummern, damit er besser hören konnte, was in der Schwärze vor sich ging. Langsam wich er zurück, bis er mit dem Rücken gegen eine Tür stieß. Sie war nur angelehnt und gab nach. Er stolperte über die Schwelle und fiel mit einem erstickten Schrei auf sein Hinterteil. Staub wallte auf.

Während er ungeschickt versuchte aufzustehen, rechnete er damit, dass sich jeden Moment etwas auf ihn stürzen würde. Zu seiner Überraschung geschah gar nichts. Dabei war sein Sturz so laut gewesen, dass man ihn noch drei Räume weiter gehört haben musste. Also doch nur eine Ratte? Allmählich traute er seinen Sinnen nicht mehr.

Leise klopfte er sich den Staub von den Kleidern. Erst jetzt sah er, in was für einem Raum er sich befand. Der Mond schien durch mehrere Dachfenster herein, Regale standen kreuz und quer und enthielten... Dinge. Schädel, menschliche und tierische. Kästen voller Knochen. Leere Gehäuse riesiger Käfer und Insekten. Gläser, in denen abstoßende Gebilde schwammen, Föten mit aufgequollenen Köpfen und Gliedmaßen an Stellen, wo keine sein sollten. Missgebildete Tiere und Organe, aufgespießt und in Flüssigkeit konserviert.

Ekel und Entsetzen ließen seinen Atem stocken. Sein Blick fiel auf einen Glaskolben, der zerbrochen auf dem Boden lag. Er schluckte, als in seinen Gedanken ein hässliches Bild entstand: Was, wenn eines dieser Dinge entkommen war und sich draußen herumtrieb?

Unsinn. Der Inhalt dieser Gläser war tot. Toter als tot, seit vielen Jahren schon. Nichts davon kroch irgendwo herum. Und er hörte besser auf, sich solche Dinge auszumalen. Sinnlose Panik war gewiss das Letzte, was er jetzt brauchte.

Trotzdem wollte er nichts mehr, als dieses Schreckenskabinett so schnell wie möglich zu verlassen. Da es ihm nicht sonderlich behagte, in den Gang zurückzukehren, wo er das Geräusch gehört hatte, entschied er, die gegenüberliegende Tür zu öffnen. Vielleicht befand sich dahinter ja ein Zugang zum Kuppelsaal. Gewundert hätte es ihn nicht: Ein Raum wie dieser schreckte Eindringlinge wirkungsvoller ab als zehn Spiegelmänner.

Die Pforte war massiver und schwerer als die anderen. Als Liam sie öffnete, hörte er Gekrächze.

Krähen, diesmal war er ganz sicher. Und offenbar viele davon. Nur sehen konnte er sie nicht. Aber wenige Schritte vor sich entdeckte er eine weitere Tür. Vorsichtig schlich er dorthin. In das eisenverstärkte Holz war ein vergittertes Fenster eingelassen.

Mit angehaltenem Atem spähte er hindurch. Was er erblickte, war so bizarr, dass er mehrmals blinzeln musste, bis er seinen Augen traute.

Vor ihm befand sich ein runder Raum, das Innere eines kuppelförmigen Erkertürmchens, zwei oder drei Mannslängen hoch, mit offenen Fensterschlitzen in den Wänden. Auf einer steinernen Kanzel stand Corvas, wie immer in seinen schwarzen Mantel gehüllt. Dutzende von Krähen umschwirrten ihn, einige saßen auf seinen ausgebreiteten Armen und krächzten.

Und Corvas lauschte.

Quindals Warnung war eine Sache, doch mit eigenen Augen zu beobachten, wie die Krähen ihre Botschaften überbrachten, eine ganz andere. Liam konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob es hier in diesem Erker gewesen war, dass Corvas von den Nachforschungen seines Vaters erfahren hatte, aus dem Schnabel eines Rabenvogels. Und welche Nachrichten empfing der bleiche Mann gerade jetzt? An wessen Tür würden die Spiegelmänner im Morgengrauen klopfen, nur weil eine Krähe ein unbedachtes Wort aufgeschnappt hatte? Liam hatte in dieser Nacht viele unheimliche Dinge gesehen, doch der Anblick von Corvas, wie er seinen gefiederten Spionen zuhörte, war mit Abstand am beklemmendsten.

Er durfte nicht länger hierbleiben. Irgendwann würde eine der Krähen ihn entdecken, und dann wäre es um ihn geschehen. Liam wandte sich ab und schlich in die Kammer mit den konservierten Monstrositäten zurück, wo er lautlos die Tür hinter sich schloss.

Er hatte genug. Falls es einen zweiten Zugang zum Kuppelsaal gab, würde er ihn finden, aber nicht in dieser Nacht. Die ständige Angst vor Entdeckung hatte ihn so sehr erschöpft, dass er nur noch schlafen wollte.

Doch als er sich der Alchymistenküche näherte, hörte er abermals das Geräusch.

Er erstarrte. Da war es, ganz deutlich. Ein Schleifen, wie von ledriger Haut auf Stein.

Oder wie von Schuppen...

Langsam wandte er sich um, blickte in den Korridor, aus dem er gekommen war, jede Faser seines Körpers zum Zerreißen gespannt.

Etwas bewegte sich in der Dunkelheit. Es kam jedoch nicht näher, als fürchte es das Sternenlicht, das durch die hohen Fenster des Labors fiel.

Aber es war da. Liam hörte es atmen.

Und es beobachtete ihn.

Eiseskälte breitete sich in ihm aus, von den Haarspitzen bis zu den Zehen. Alles in ihm schrie nach Flucht. Doch noch mächtiger war das Verlangen, endlich zu erfahren, was ihm seit dem Raum mit den Käfigen folgte. Andernfalls, so fürchtete er, würde er den Verstand verlieren.

Es kostete ihn all seine Willenskraft, sich zu bewegen, einen Schritt zu tun. Das Ding in den Schatten gab einen fleischigen Laut von sich, als es zurückwich.

Noch einen Schritt. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Am Eingang, wo es saß, verdichtete sich die Dunkelheit zu einem tiefschwarzen Kern, zu einem unförmigen Klumpen Finsternis.

»Zeig dich«, flüsterte er mit brüchiger Stimme.

Pfeifendes Atmen. Dann ein Keuchen voller unterdrückter Qual.

Es machte eine ruckartige Bewegung, und für einen flüchtigen Moment erhaschte Liam einen Blick auf das Ding, oder auf Teile davon, er wusste es nicht. O Gott, nein, durchfuhr es ihn, er wirbelte herum und stieß gegen den Tisch, Glas schepperte, er rannte durch das Labor, den Raum mit den Käfigen, hastete, all seine Vorsicht vergessend, die Treppe hinab, nur fort von diesen Kammern und dem Grauen, das darin hauste.

Schlaflos wälzte sich Umbra in ihrem Bett von einer Seite auf die andere und verfluchte die Nacht.

Bei Einbruch der Dunkelheit zog sie sich stets in ihre Kammer zurück. Wenn die Sonne hinter dem Horizont versank, verschmolzen die Schatten mit der Finsternis, bis sie schließlich verschwanden und für Umbra unerreichbar wurden. Deshalb mied sie die Dunkelheit, so gut sie konnte. Ohne die Schatten war sie schwach.

Sie verlor ihre Kräfte, sowie der letzte Sonnenstrahl erlosch. Gegen die Erschöpfung, die sie anschließend überkam, war sie machtlos, weswegen sie meist früh zu Bett ging. Sie löschte die Kerze und schlief wenig später ein, um nach einigen Stunden vom ersten Licht des Tages geweckt zu werden, erfüllt von neuer Vitalität, die sie den langen Schatten des Morgens verdankte.

Heute jedoch fand sie keinen Schlaf. Wenn sie die Augen schloss, kamen die Bilder - Erinnerungen an eine andere Nacht, eine Nacht voller Feuer und Blut. Sie hatte diese Bilder tief in sich eingeschlossen, in einem dunklen Winkel ihrer Seele, und meist gelang es ihr, nicht daran zu denken. Manchmal jedoch kehrten sie unvermittelt zurück, so klar und deutlich, als würde sie die Ereignisse jener Stunden noch einmal durchleben.