Sogar die Schreie konnte sie hören.
Lange nach Mitternacht stand Umbra schließlich auf, zog sich trotz der bleiernen Schwere in ihren Gliedern an und verließ ihr Zimmer. Ziellos streifte sie durch Flure und Säle des Palasts, floh vor der Vergangenheit, in der Hoffnung, den quälenden Erinnerungen zu entkommen.
Seit vier Jahren lebte sie hier. Sie kannte jedes Zimmer, jede Nische des verwinkelten Anwesens, fand sich sogar bei Nacht darin zurecht. Die Finsternis in den Korridoren machte ihr zu schaffen, doch sie widerstand dem Drang, zu ihrer Kammer zurückzukehren. Die Dunkelheit war leichter zu ertragen als die Stille in ihrem Zimmer, in der sie mit ihren Gedanken allein war. Außerdem ging bald die Sonne auf. Sie konnte bereits spüren, wie die Erschöpfung nachließ.
Sie hatte keine Stiefel angezogen. Sie liebte es, die kühlen Steinfliesen unter ihren nackten Fußsohlen zu spüren. Barfuß stieg sie eine Wendeltreppe hinauf, staubige Stufen, die sich in einem Eckturm emporwanden. Oben angekommen, trat sie an ein milchiges Bleiglasfenster, wischte die Spinnweben weg und blickte über die Stadt, die sich vor ihr ausbreitete. Hunderte von Laternen glitzerten in den dunklen Gassen, wie ein Meer aus Sternen.
Sie wollte zusehen, wie die Sonne hinter den Hügeln östlich des Kessels aufstieg und die Schatten von Dachgiebeln, Kaminen und Wetterfahnen auf Straßen und Plätze zeichnete. Wenn ihre Kräfte erwachten, würde sie stark genug sein, die Erinnerungen zu bezwingen. So war es jedes Jahr.
Im Osten färbte sich der Himmel erst violett, dann blau, schließlich orange. Trübes Morgenlicht kroch über die Anhöhe. Stadthäuser und Villen tauchten aus der Dunkelheit auf. Umbra stand reglos am Fenster, als die Sonne hinter den Dächern erschien. Spürte, wie ihr Schatten in die Länge wuchs. Fühlte ihre Kraft zurückkehren.
Die Nacht war zu Ende. Umbra lächelte.
Sie blieb noch eine Weile auf der Turmspitze und lauschte den Geräuschen der erwachenden Stadt, die kaum hörbar zu ihr heraufdrangen, ehe sie schließlich die Treppe hinunterstieg und bei jedem Schritt die Energie genoss, die durch ihren Körper strömte. Die quälenden Bilder verblassten bereits. Irgendwann im Lauf des Tages, während sie ihren Pflichten nachging, würden sie gänzlich verschwinden.
Bis zum nächsten Mal, flüsterte eine Stimme in ihrem Innern, doch Umbra schenkte ihr keine Beachtung.
Ihr Tag begann stets damit, dass sie Jackon im geheimen Zimmer abholte, wohin sie ihn jeden Abend brachte. Allerdings würde der Junge frühestens in einer halben Stunde aufwachen, sodass sie noch genug Zeit hatte, zu frühstücken. Nach solch einer Nacht brauchte sie dringend einen Kaffee.
Während sie zu dem Trakt ging, den Corvas, Amander und sie bewohnten, hörte sie ein Geräusch. Es kam aus einem verlassenen Korridor.
Umbra blieb stehen und horchte. Da war es wieder: platschende Schritte, gefolgt von schnaufendem Atem.
Sie seufzte. Primus. Nicht schon wieder. Wann brachte die Herrin an seinem Käfig endlich ein Schloss an, mit dem er nicht so einfach fertig wurde?
Mit einer Zornesfalte zwischen den Augenbrauen folgte sie dem Flur. Die aufgehende Sonne schien durch die Buntglasscheiben und überzog Wände und Boden mit einem verwirrenden Farbenspiel.
Primus hatte sie offenbar bemerkt. Er kauerte in einer Nische, wo tiefe Schatten ihn verbargen.
»Spar dir die Mühe«, schnarrte sie. »Ich kann dich sehen.«
Die missgestaltete Kreatur machte sich so klein wie möglich.
»Komm raus. Oder ich helfe nach.«
Primus gab eine Art Winseln von sich. Manchmal war Umbra, als versuche er, Silben und Worte zu formen, allerdings brachte er nie mehr als ein Krächzen zustande. Sie schauderte. Der kleine Mistkerl war einfach widerwärtig.
»Also gut. Du hast es nicht anders gewollt.«
Sie konzentrierte sich, woraufhin ihr Schatten zu wachsen begann und über den Boden kroch, bis er Primus’ Versteck erreichte. Das Geschöpf keuchte panisch, als sich schattenhafte Arme um ihn schlangen und ihn aus der Nische zerrten.
»Ich frage mich«, knurrte Umbra, »warum die Herrin dich nicht längst getötet hat.«
16
Seelenhäuser
Nacht für Nacht, wenn die anderen Bewohner des Palasts längst schliefen, holte Umbra Jackon ab und brachte ihn durch den schattenhaften Tunnel zu dem geheimen Zimmer, wo er unter den Augen der Lady seine Gabe schulte.
Langsam machte er Fortschritte. Bevor er einschlief, nahm er sich stets vor, die Tür zu finden, sodass er mit der Zeit lernte, sich daran zu erinnern, während er träumte. Indem er sich bewusst machte, dass alles, was er in seinen Träumen sah und erlebte, nicht real war, verirrte er sich nicht mehr so leicht darin. Wenn er sich Mühe gab, konnte er sie sogar nach seinem Willen verändern. Als er wieder einmal vor einer Horde Ghule durch die Kanäle floh, fokussierte er seine Gedanken und wünschte sich an einen sicheren Ort. Im nächsten Moment wanderte er über eine sonnige Wiese, und seine Furcht einflößenden Verfolger waren verschwunden.
Lady Sarka schien das Zimmer nicht zu verlassen, während er schlief. Wenn er aufwachte, saß sie stets in ihrem Lehnstuhl, um sich nach seinen Erfahrungen zu erkundigen, ihn für seine Fortschritte zu loben oder ihn aufzumuntern, wenn er das Gefühl hatte, nicht voranzukommen.
»Ist sie wirklich die ganze Nacht bei mir?«, fragte er eines Abends Umbra.
»Natürlich.«
»Wann schläft sie?«
»Niemals«, antwortete die rothaarige Frau so einsilbig wie immer.
»Niemals? Aber sie muss doch irgendwann schlafen. Jeder Mensch muss das.«
»Die Herrin nicht. Und jetzt beeil dich gefälligst. Sie wartet schon auf dich.«
Nach einigen Tagen fiel es ihm nicht mehr schwer, die Tür zu finden, obwohl sie sich jede Nacht an einer anderen Stelle befand. Wie die Lady gesagt hatte, war sie stets irgendwo in den Träumen versteckt. Mal stand sie mitten auf einer Straße, die er entlangging, mal war sie in die Wand der Alten Glasbläserei eingelassen oder schwebte über einer Wasserfläche. Doch sowie er seine Hand auf den Messsingknauf legen wollte, veränderte sich die Umgebung, und die Tür verschwand. Offenbar wollten die Träume verhindern, dass er sie öffnete.
Lady Sarka spornte ihn an, nicht aufzugeben, sich nicht von den Träumen verwirren zu lassen. Hartnäckig übte er weiter.
Seit dem Beginn seiner Ausbildung war eine Woche vergangen. Jackon hatte sich angewöhnt, gleich nach dem Abendbrot auf sein Zimmer zu gehen, wo er sich wusch und saubere Kleider anzog. Wie an den vergangenen Abenden ließ Umbra nicht lange auf sich warten. Als sie in einer Ecke der Kammer erschien, stand er vom Bett auf und folgte ihr in den Tunnel, der sich durch die Dunkelheit schlängelte.
Voller Unbehagen betrachtete er die schwarzen Wände, die nicht richtig fest waren, aber auch nicht durchsichtig. Einmal glaubte er zu sehen, wie sich etwas in der Finsternis bewegte.
»War das eine Düsterkralle?«, fragte er leise.
»Schon möglich.«
Es gebe eine Vielzahl von Wesen, die in der Zwischenwelt der Schatten lebten, hatte Umbra ihm erzählt. Glücklicherweise war ihnen bisher keines davon begegnet.
»Wieso müssen wir immer durch diesen Tunnel gehen? Gibt es keinen anderen Weg?«
»Das ist der kürzeste. Und der unauffälligste.«
Und vermutlich der gefährlichste, dachte Jackon und war erleichtert, als wenig später Licht die Wand aus Dunkelheit durchbrach. Er trat durch den Spalt und stolperte im nächsten Moment über den ausgeblichenen Teppich. »Wir sehen uns morgen früh«, sagte Umbra, bevor sie verschwand und ihn schwindelnd und mit pochenden Schläfen zurückließ. Er würde sich nie an diese Art der Fortbewegung gewöhnen.
Jackon atmete tief ein und aus, bevor er langsam über den Teppich ging. Wie immer erfüllte ein seltsamer Duft die fensterlose Kammer - fremdartig, aber wohltuend. Lampen verströmten warmes Licht. Lady Sarka kniete hinter dem Wandschirm und flüsterte leise. Als sie aufstand, sah er etwas in die Schatten huschen, klein, grau, mit ledriger Haut. Bevor er mehr sehen konnte, war es auch schon verschwunden.