»Noch eins?«
»Gern.«
Sie saßen im Palastgarten, unter den ausladenden Ästen eines Apfelbaums, wo die Hitze einigermaßen erträglich war. Das Brett lag auf einer umgedrehten Weinkiste. Ibbott Hume hatte ihnen den Nachmittag freigegeben, denn für den frühen Abend stand ein offizieller Empfang an, bei dem sie nicht gebraucht wurden.
Nachdem sie die Partie zu Ende gespielt hatten, stand Liam auf. »Genug für heute. Ich muss los.«
»Wohin?«
»Zu meinem Großonkel. Ich habe versprochen, ihn zu besuchen. Wir sehen uns heute Abend.«
Nachdem Liam gegangen war, legte Jackon das Spielbrett und die Steine in den Korb und genoss das Nichtstun. Die vergangenen Tage gehörten zu den schönsten seines Lebens. Seit ihrem unfreiwilligen Ausflug in die städtische Unterwelt erledigten er und Liam die Gartenarbeit nach Möglichkeit gemeinsam. In den Pausen saßen sie zusammen, redeten oder alberten im Heckenlabyrinth herum. Liam lehrte ihn die Brett- und Kartenspiele, die sie im Gemeinschaftsraum fanden, und hatte sogar angeboten, ihm Lesen und Schreiben beizubringen. Der Blonde war so viel gebildeter als er, dennoch fühlte sich Jackon in seiner Gegenwart niemals unwissend oder unterlegen.
Lady Sarka hatte recht: Liam und er waren tatsächlich Freunde geworden.
Dabei wusste er kaum etwas über ihn: nur dass er aus dem fernen Torle stammte und dass seine Eltern an der Cholera gestorben waren, weswegen sein Großonkel ihn bei sich aufgenommen hatte - mehr nicht. Liam war sehr verschlossen, was seine Vergangenheit anging.
Das machte Jackon nichts aus. Viel schlimmer fand er, dass er nichts von seiner Vergangenheit erzählen konnte. Immer, wenn die Sprache darauf kam, musste er die dumme Lüge wiederholen, die die Lady sich für ihn ausgedacht hatte, obwohl Liam seit ihrem Abenteuer in den Kanälen vermutlich längst ahnte, dass er ihm etwas verheimlichte.
Jackon hasste es, ihn zu belügen. Sie waren gerade erst Freunde geworden, und schon war er gezwungen, Liam etwas vorzumachen. Andererseits - wie würde Liam reagieren, wenn er erführe, dass Jackon ein Schlammtaucher gewesen war? Möglicherweise wäre er dann nicht mehr so nett zu ihm. Schließlich mochte niemand Schlammtaucher. Nicht einmal die freundlichsten und großherzigsten Menschen.
Jackon seufzte. Besser, er hörte auf, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, bevor alles noch komplizierter wurde.
Am frühen Abend tauchten nach und nach die Gäste auf, Männer in doppelreihigen Gehröcken und Frauen in kostbaren Kleidern. In ihren Droschken fuhren sie vor das Anwesen, wo Lady Sarka sie empfing und zu einem Pavillon geleitete, den Hume, Liam und Jackon am Vormittag unter den Bäumen aufgebaut hatten. Vier Musiker spielten dort auf ihren Instrumenten, Jocelyn und der Palastkoch servierten Wein und Absinth. Von Umbra wusste Jackon, dass es sich bei den Gästen um Patrizier, Aethermakler, Adlige, Luftschiffeigner und andere bedeutende Bürger handelte. Sogar zwei Alchymisten waren gekommen, leicht zu erkennen an ihren fließenden Gewändern. Umbra hielt sich unauffällig am Rande des Geschehens auf, von wo aus sie die Lady im Auge behielt. Später gesellten sich Corvas und Amander zu ihr. Die beiden Männer waren den Gästen sichtlich unheimlich. Wer konnte, machte einen weiten Bogen um sie.
Eigentlich sollte Jackon gar nicht hier sein - Hume hatte ihm verboten, sich während des Empfangs draußen herumzutreiben. Aber da alle viel zu beschäftigt waren, nahm niemand Notiz von ihm. Er machte sich diesen Umstand zunutze und suchte sich ein Plätzchen im Heckenlabyrinth, von dem aus er einen guten Blick auf den Pavillon hatte. Denn neugierig, wie er war, dachte er gar nicht daran, seine Kammer aufzusuchen.
Allerdings erwies sich das kleine Gartenfest bald als recht langweilig. Die Leute standen herum, rauchten und nippten an ihren Gläsern. Lady Sarka ging von einem Grüppchen zum nächsten, scherzte mit ihren Gästen und unterhielt sich mal mit diesen, mal mit jenen. Geredet wurde über die Unruhen der jüngsten Zeit und über andere Dinge, von denen Jackon nichts verstand. Als er gerade beschloss zu gehen, entdeckte er das Luftschiff.
Es fuhr über die Altstadt, ein gewaltiger Zapfen vor dem rot glühenden Himmel, dessen silberne Hülle in der Abendsonne schimmerte. Das allein war nicht sonderlich ungewöhnlich; jeden Tag kreisten Dutzende von Luftschiffen über Bradost. Dieses jedoch schwebte so tief, dass es beinahe die Kamine von den Dächern riss. Und es kam genau auf den Palast zu.
Beunruhigt beobachtete Jackon den fliegenden Koloss. Hatte das Schiff Lande- oder Startschwierigkeiten? Es sah nicht danach aus. Die Motoren brummten gleichmäßig, es verlor keine Höhe und schlingerte nicht.
Er blickte zum Gartenfest. Dort hatte noch niemand das Luftschiff bemerkt, nicht einmal Umbra und ihre beiden Gefährten. Sollte er sie warnen? Nein, besser, er wartete noch, ob das Schiff abdrehte.
Doch es behielt seine Richtung bei, und wenig später kroch sein Schatten über den unteren Teil des Palasthügels. Inzwischen übertönte der Motorenlärm deutlich die Musik. Die ersten Gäste drehten die Köpfe und deuteten verwundert auf das silberne Ungetüm.
Jetzt wurde auch Umbra darauf aufmerksam. Besorgnis erschien in ihrer Miene, sie flüsterte Corvas etwas zu und bahnte sich durch die Menge einen Weg zu Lady Sarka.
Jackon blinzelte gegen die versinkende Sonne. Sein Körper spannte sich an, und plötzlich schrie alles in ihm: Gefahr!
Die Motoren summten wie zehntausend Bienenschwärme und sonderten goldenen Aetherdampf ab. Das Luftschiff schwebte nun über den Hügel, in einer Höhe von nicht mehr als fünfzehn Schritt.
Kaum befand sich die Bugschnauze über Jackon, begann es zu feuern.
Ein Blitz zuckte fauchend durch die Luft und riss das Dach des Pavillons weg, ein zweiter fuhr in einen Baum. Die Gäste schrien und rannten durcheinander, Tische und Stühle fielen um, Menschen stürzten zu Boden.
Jackon war wie erstarrt und blickte zu der silbernen Hülle über seinem Kopf empor - bis er Rufe hörte, die das panische Geschrei übertönten. Er schaute durch die Hecke und sah, dass einige der Gäste Waffen gezückt hatten, Messer, Pistolen und winzige Armbrüste. »Blut für Bradost!«, schrien sie. »Blut für den Magistrat!«
Als Jackon begriff, was vor sich ging, schien sein Herz stillzustehen. Diese Männer wollten die Lady ermorden!
In dem Durcheinander konnte er weder Umbra noch Lady Sarka ausmachen. Spiegelmänner kamen aus dem Palast gerannt. Ein Blitz zuckte von der Luftschiffgondel herab, traf einen Maskierten und verwandelte ihn in einen unförmigen Klumpen Asche. Die anderen verteilten sich und stürzten sich mit gezückten Rabenschnäbeln auf die Attentäter.
Im nächsten Moment wurde überall gekämpft. Ein junger Mann mit einem Messer warf sich brüllend einem Spiegelmann entgegen und wurde niedergestreckt. Ein anderer legte mit seiner Pistole an und traf einen Maskierten in die Brust, woraufhin der Schwarzgekleidete zu Boden stürzte, um sich gleich darauf wieder aufzurappeln und dem Schützen die Pistole aus der Hand zu schlagen.
Jackon kauerte sich in seinem Winkel zusammen und machte sich so klein wie möglich. Plötzlich brachen neben ihm ein Spiegelmann und ein Attentäter durch die Hecke und rangen miteinander. Jackon sprang auf. Er musste hier fort - nur wohin? Er rannte an den Kämpfenden vorbei, zum Ausgang des Labyrinths und von dort aus durch den Garten. Pulverdampf wogte in der Luft. Weißes Licht gleißte, als sich ein weiterer Blitz in den Boden bohrte. Vor Angst erstarrte Menschen versteckten sich hinter Büschen und umgeworfenen Bänken.
Jackon schlug Haken, sprang über reglose Körper. Als ihm drei bewaffnete Männer entgegenkamen, darunter einer der Alchymisten, warf er sich im zerstörten Pavillon unter einen Tisch. Der Alchymist schoss mit seiner Miniaturarmbrust und traf einen Spiegelmann in der Schulter, was dem Maskierten nicht das Geringste anzuhaben schien. Hektisch lud der Alchymist nach, während sich seine beiden Gefährten mit ihren Messern auf den Spiegelmann stürzten.