In diesem Moment erschien Amander hinter dem Alchymisten, der ihn nicht bemerkte. Seelenruhig zog er seine weißen Handschuhe aus, warf sie fort und berührte den Attentäter am Hals. Dieser ließ vor Schreck seine Armbrust fallen und fuhr herum. Seine Augen weiteten sich vor Grauen, als er Amander erkannte. Dann stockte sein Atem, blutiger Schaum quoll aus seinem Mund, und er brach zusammen. Mit einem dünnen Lächeln betrachtete Amander sein Werk.
Entsetzt wandte Jackon sich ab. Doch was sich im Rest des Gartens abspielte, war nicht weniger schrecklich. Der Spiegelmann, aus dessen Schulter der winzige Armbrustbolzen ragte, wurde von mehreren Messerstichen getroffen. Warum stirbt er nicht?, durchfuhr es Jackon. Aber der Maskierte taumelte nicht einmal. Mühelos streckte er die Angreifer nieder.
Am Rande des Apfelhains stand Corvas. Der Bleiche starrte das Luftschiff an, das am Palastgebäude vorbeigeglitten war, einen engen Bogen beschrieb und zurückkam. Plötzlich breitete er seine Arme aus, wodurch sein Mantel zwei Schwingen glich. Krähen lösten sich aus der Schwärze seines Körpers, ein ganzer Schwarm, der ihn wie eine Windhose umkreiste, bevor er einen spitzen Keil bildete und zu dem Luftschiff hinaufflog. Kreischend, mit Krallen und Schnäbeln stürzten sich die Vögel auf die silberne Hülle und rissen winzige Löcher hinein. Aetherdampf trat aus und umgab das Schiff wie einen glitzernden Schleier.
Jackon schluckte. Corvas’ Macht war noch größer und schrecklicher, als er je für möglich gehalten hätte.
Er musste irgendwie ins Haus gelangen. Nur dort war er sicher. Als er sich nach einem Fluchtweg umsah, entdeckte er Lady Sarka.
Sie kauerte inmitten des Durcheinanders zwischen zwei umgestürzten Tischen. Umbra war bei ihr. Da um die beiden Frauen herum gekämpft wurde, saßen sie fest.
Jackon fasste den Entschluss, ihnen zu helfen. Er kroch unter dem Tisch hervor und hastete geduckt zwischen den Bäumen entlang, bis ihn das Handgemenge zwischen einem Spiegelmann und einem Attentäter zwang, hinter einem Steinlöwen in Deckung zu gehen.
Währenddessen versuchte sich ein Bewaffneter an das Versteck der Lady heranzupirschen. Umbra entdeckte ihn und tat... irgendetwas. Der Mann schrie, wurde nach hinten gerissen, verlor seine Pistole, während er stürzte, und bewegte sich nicht mehr.
Den zweiten Angreifer sah nur Jackon. Der Mann kroch über den Rasen, in der Hand einen Dolch. »Herrin!«, schrie Jackon, doch seine Warnung kam zu spät. Der Attentäter sprang auf, warf sich über den Tisch und stach zu.
Lady Sarka wirbelte herum, als sie Jackons Ruf hörte, sodass sich der Dolch in ihre Schulter bohrte. Blut quoll aus der Wunde und tränkte ihr Kleid, mit einem schmerzerfüllten Keuchen fiel sie zur Seite. Der Angreifer kniete sich breitbeinig auf sie und stach wieder und wieder zu, bevor Umbra reagierte und ihm einen Tritt versetzte. Er prallte gegen den Tisch, Umbra verdrehte ihm den Arm, woraufhin er das Messer fallen ließ. Sie stieß ihn von sich, hob das Messer auf und rammte es ihm in den Rücken.
Jackon war währenddessen aufgestanden und rannte über den Rasen, ohne einen Gedanken an die Pistolenschüsse und Schreie um ihn herum. Neben Lady Sarka fiel er auf die Knie. Sie blutete aus einem halben Dutzend Wunden. Ihre Augen trübten sich.
»Herrin«, brachte er mit erstickter Stimme hervor.
Leise flüsterte sie seinen Namen und ergriff seine Hand. Ihre Finger waren kalt.
Er durfte nicht zulassen, dass sie starb. Er musste etwas tun, ihre Wunden verbinden, wenigstens ihr Kleid öffnen, damit sie atmen konnte. Aber das Entsetzen lähmte ihn so sehr, dass er nur dasitzen und ihre Hand halten konnte.
»Jackon!«, rief Umbra. »Wir müssen sie fortbringen. Hilf mir.«
Der barsche Klang ihrer Stimme riss ihn aus seiner Erstarrung. Er sprang auf und ergriff Lady Sarkas Beine, während Umbra sie an den Schultern hochhob. Gemeinsam trugen sie die Verletzte über die Wiese. Ihr Kopf war nach hinten gefallen. Sie hatte das Bewusstsein verloren.
»Nicht da entlang«, schnarrte Umbra, als er zum Eingang des Anwesens laufen wollte, und dirigierte ihn zum Pavillon.
Als Jackon sich noch fragte, was sie vorhatte, wankte ein Attentäter auf sie zu. Der Mann bleckte die Zähne und presste eine Hand auf eine Schulterwunde; in der anderen hielt er eine Pistole.
»Vorsicht!«, kreischte Jackon, doch Umbra hatte den Angreifer bereits gesehen. Ihre Augen verengten sich, als sie zu den Apfelbäumen blickte, deren Laubkronen sich dunkel vor der untergehenden Sonne abzeichneten. Der Schatten des höchsten Baumes begann zu wachsen und bewegte sich auf den Attentäter zu. Das schwarze Gewirr der Äste auf dem Boden wand sich wie ein Knäuel Vipern und besaß plötzlich Festigkeit und Substanz. Schattenhafte Arme umschlangen den Mann, bevor er mit seiner Pistole anlegen konnte, wickelten sich um seine Brust, seinen Hals, sein Gesicht. Er schrie und brach zusammen, die Schatten ließen von ihm ab. Rote Striemen wie von Peitschenhieben überzogen seine Haut.
In Jackons Kopf drehte sich alles. Er wusste schon lange nicht mehr, ob er all das wirklich erlebte oder ob er durch einen grauenvollen Traum wanderte. Wie in Trance half er Umbra, die Lady in den Pavillon zu bringen. Dort kauerte sie sich in den Schatten und befahl ihm, die Verletzte loszulassen.
»Nein, du nicht«, sagte sie barsch, als er zu ihr gehen wollte. Die Schatten hüllten die beiden Frauen ein, und im nächsten Moment waren sie verschwunden.
Jackon lehnte sich gegen die Pavillonwand und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Wenn er nur nicht so viel Angst hätte! Unauffällig schaute er sich um und stellte fest, dass die Spiegelmänner inzwischen die meisten Attentäter überwältigt hatten. Trotzdem fühlte er sich im Garten nach wie vor nicht sicher.
Er lief in Richtung des Palasteingangs und verbarg sich hinter den Rosenbüschen, als in seiner unmittelbaren Nähe ein Pistolenschuss donnerte. Jemand brach vor der Hecke zusammen. Ein Spiegelmann, wie Jackon mit einem verstohlenen Blick feststellte. Seine Spiegelmaske war zerbrochen, zahllose Splitter lagen glitzernd im Gras. Und das Gesicht, das darunter zum Vorschein gekommen war... Jackon schob die Dornenäste zur Seite, um besser sehen zu können.
Es war nicht menschlich.
Er riss den Kopf herum, als ein gewaltiger Schatten über ihn hinwegstrich.
Das Luftschiff stürzte ab.
18
Vivana
Heruntergekommene Mietskasernen und ärmliche Bretterbuden säumten die Gasse, der Liam folgte. An der Hügelflanke wirkten die Gebäude wie aufeinandergestapelt, ein verschachteltes Wirrwarr aus Ziegelstein, Blech und Schiefer. Wo der Hang zu steil war, wich das Kopfsteinpflaster ausgetretenen Treppen, über denen sich die Fassaden der oberen Stockwerke beinahe berührten. Abwässer flossen in einer Rinne talwärts. Die Luft roch nach Asche und Rauch.
Liam kam von Quindals Werkstatt. Der Erfinder wollte sich in seinem Haus mit ihm treffen, musste vorher jedoch seine Arbeit zu Ende bringen, weswegen er ihn aufgefordert hatte, schon vorauszugehen. Das Anwesen des Wissenschaftlers stand auf dem östlichen der drei Hügel, die sich rings um den Kessel erhoben. Der Weg dorthin war nicht sonderlich weit, aber anstrengend, da er ausnahmslos hangaufwärts führte.
Liam bekam von seiner Umgebung kaum etwas mit, denn er dachte zum tausendsten Mal an seinen nächtlichen Streifzug durch den Palast. Ein paar Tage waren seitdem vergangen, doch das Grauen saß ihm immer noch in den Gliedern. Was immer er in der Alchymistenküche gesehen hatte, es schien ihm nicht gefolgt zu sein, als er Hals über Kopf geflohen war. Dennoch hatte es einen vollen Tag gedauert, bis er sich in seiner Kammer wieder sicher gefühlt hatte. Ob Hume und die anderen Bediensteten wussten, dass sich nachts seltsame Geschöpfe in den Fluren herumtrieben? Der Vorfall machte Liam so sehr zu schaffen, dass er am liebsten Jackon davon erzählt hätte. Aber wie sollte er erklären, warum er sich mitten in der Nacht in einem Flügel des Palasts aufhielt, in dem er nichts zu suchen hatte? So sehr er Jackon mochte, erschien es ihm doch zu riskant, ihn ins Vertrauen zu ziehen.