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Wenn er dieses Ding wenigstens deutlicher gesehen hätte... Er hatte lediglich erkennen können, dass es eine Art Kopf, graue Haut und missgestaltete Gliedmaßen besaß. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, wenn er nur daran dachte.

Auf der Hügelkuppe blieb er stehen. Vor ihm verlief eine Straße, die deutlich breiter und wohnlicher war als die Gassen des Kessels. Zwischen den alten Villen und Herrenhäusern erstreckten sich gepflegte Gärten, in denen Brunnen plätscherten. Obwohl die Sonne gerade erst untergegangen war, machten bereits die Lampenanzünder die Runde, und die Granitfassaden erstrahlten im Schein der Gaslaternen.

Ein Schild verriet Liam, dass er sich in der richtigen Straße befand. Kurz darauf hatte er Quindals Haus gefunden. Gusseiserne Gitter befanden sich vor den Fenstern des zweistöckigen Anwesens. Das rußgraue Mauerwerk wirkte verwittert, einer der Erker erweckte den Anschein, als könnte er jeden Moment auf die Straße stürzen, so zerfallen sah er aus. Eine Kuppel aus Bleiglas krönte den Eckturm, und Liam konnte darin die eisernen Bögen eines drehbaren Teleskops erkennen: ein Observatorium, das schon lange nicht mehr benutzt wurde, den blinden Scheiben nach zu urteilen.

Er holte den Schlüssel hervor, den er von Quindal bekommen hatte, schloss die Haustür auf und trat ein. Ein kurzer Flur führte zu einem runden Raum, der sich über beide Stockwerke erstreckte. Abendlicht fiel durch eine Kuppel aus Messingstreben und Glas. Im Boden aus Porphyr spiegelte sich schattenhaft seine Gestalt. Bücher, hunderte, wenn nicht sogar tausende, füllten die Wandregale. Die Holztäfelungen glänzten rotbraun im Schein der Lampen. Es roch nach frischem Kaffee.

Lampen? Kaffeeduft? Quindal hatte ihm nichts davon gesagt, dass er mit jemandem zusammenlebte. Vielleicht ein Diener?

»Hallo?«, rief Liam.

Keine Antwort. Vielleicht hatte der Erfinder lediglich vergessen, die Lampen zu löschen, bevor er aus dem Haus gegangen war. Obwohl er eigentlich nicht zerstreut wirkte.

Liam beschloss, hier auf Quindal zu warten, und sah sich um. Gemälde hingen unterhalb der Kuppel, und obwohl er nicht viel von Kunst verstand, sah er auf den ersten Blick, dass es sich um Kostbarkeiten handelte. Eines stellte Tessarion dar, wie er mit hocherhobenem Stab der Todesgefahr trotzte und den Heiden von Varusia predigte. Ein anderes zeigte eine beklemmende Landschaft aus titanischen Ruinen, seltsamen Flüssen und schwarzen Felsenkämmen, in der sich Scharen grotesker Kreaturen tummelten: das Pandæmonium, Kerker und Heimstatt der Dämonen und verdammten Seelen.

Im Boden befand sich ein Mosaik: eine Weltkarte aus abertausenden winzigen Steinen. Bradost lag genau in der Mitte, jenseits des Gebirges erstreckte sich Torle, das Land der tausend Flüsse sowie die Heimat eines gewissen Liam Hugnall, und daneben das von ewigen Kriegen zerrissene Barkisien. Auf der anderen Seite des Meeres: Aquinia mit seinen unergründlichen Wäldern, die Zwillingsinseln Kairis und Jandis und im Süden das Wüstenreich Yaro D’ar. Weltkarten waren kostbar und selten; Liam hatte in seinem Leben erst eine einzige zu Gesicht bekommen, eine vergilbte und unleserliche im Atlas seines Vaters. Er konnte sich kaum daran sattsehen.

Ein Zischen erklang.

Er erschrak so sehr, dass er gegen die Regalwand prallte. Aus einem der Flure kam ein seltsames Wesen gekrochen. Im ersten Moment dachte er, es sei das Ding aus dem Labor - Tessarion allein wusste, wie es hierhergekommen war. Dann stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass es keinerlei Ähnlichkeit mit der missgestalteten Monstrosität aufwies. Es war eine Art Echse von der Größe einer Katze. Aus dem schwarz geschuppten Schlangenleib wuchsen zwei krallenbewehrte Pfoten, mit denen sich das Tier robbend fortbewegte. Es fauchte ihn an und stellte drohend seine Rückenstacheln auf.

Langsam wich Liam zur Haustür zurück.

»Ruac tut dir nichts«, sagte jemand. »Er ist nur ein Tatzelwurm.«

Ein Mädchen betrat den Saal. Sie trug einen bunten Rock und mochte etwa so alt sein wie er. Das lange braune Haar hatte sie mit silbernen Spangen zurückgesteckt. Liam war erleichtert, als sie das Echsengeschöpf zu sich rief. Der Wurm robbte über den Boden, kletterte an ihrem Arm empor und machte es sich auf ihren Schultern bequem, indem er seinen Schwanz um ihren Nacken schlang.

»Du weißt doch, was ein Tatzelwurm ist, oder?«, fragte sie.

»Äh, ja. Natürlich«, log er.

Das Mädchen war sehr hübsch.

Liam räusperte sich. »Wer bist du?«

»Vivana«, stellte sie sich vor. »Und du bist wohl Liam Hugnall.«

»Du kennst meinen Namen?«

»Vater hat von dir erzählt.«

»Vater?«, wiederholte er verwirrt. »Du meinst Nestor Quindal?«

»Er hat mich mit keinem Wort erwähnt, richtig?«

Er schüttelte den Kopf, woraufhin sie den Mund verzog.

Liam hätte nicht verblüffter sein können. Der Gedanke, Quindal könnte eine Familie haben, war ihm aus irgendeinem Grund nie gekommen. »Tut mir leid, dass ich einfach so hereinplatze. Quindal... ich meine, dein Vater hat mir den Schlüssel gegeben. Ich soll hier auf ihn warten.«

»Macht nichts. Möchtest du Kaffee? Ich habe gerade welchen aufgesetzt.«

Er folgte ihr ins Nebenzimmer, einen gemütlichen Salon mit holzgetäfelten Wänden, Ohrensesseln und noch mehr Büchern. Der Tatzelwurm starrte Liam argwöhnisch mit seinen gelben Reptilienaugen an, während Vivana an der Anrichte stand und Kaffee einschenkte.

»Milch? Zucker?«

»Nur Milch, danke.«

Sie nahmen Platz. Der Tatzelwurm reckte die Schnauze, um an Vivanas Kaffee zu schnüffeln. Sie setzte ihn auf den Boden, wo er unter die Anrichte watschelte und sich zusammenrollte.

»Was hat dein Vater gesagt, als er mich erwähnte?«, erkundigte sich Liam betont beiläufig.

»Dass du dich als mein Großcousin aus Torle ausgibst.«

»Also kennst du die Geschichte, die er sich ausgedacht hat.«

»Er war so nett, sie mir zu erzählen.« Vivana zog die Nase kraus. »Obwohl er mir sonst nicht gerade viel erzählt.«

»Ist das alles, was du weißt?«

»Ziemlich.«

Vermutlich hatte Quindal seine Tochter eingeweiht, um zu verhindern, dass sie ihn und Liam versehentlich verriet, indem sie der falschen Person erzählte, sie habe gar keinen Großcousin namens Liam. Das war einerseits umsichtig; andererseits erfüllte es Liam mit Sorge, dass nun noch jemand von dieser Sache wusste. Wenn Vivana sich verplapperte, war es um ihn geschehen.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Was auch immer dein Geheimnis ist.«

»Habe ich dein Wort?«, fragte er zögernd.

»Erwartest du etwa von mir, dass ich schwöre?«

»Nein. Aber es ist wichtig, dass niemand weiß, wer ich wirklich bin. Mein Leben...«

»... hängt davon ab, ich weiß. Mein Vater hat mir das mehr als deutlich eingeschärft, das kannst du mir glauben.«

»Gut«, erwiderte Liam, obwohl er sich immer noch unwohl fühlte.

Vivana nippte an ihrem Kaffee und bedachte ihn mit einem seltsamen Blick. »Also, Liam Hugnall, weswegen bist du hier?«

»Ich muss etwas mit deinem Vater besprechen.«

»Geheime Dinge, nehme ich an.«

»So ungefähr.« Plötzlich kam sich Liam wie ein Narr vor. Da saß er nun mit diesem Mädchen, das er eben erst kennengelernt hatte, und benahm sich wie eine Figur aus einem billigen Kriminalroman.