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Sie seufzte. »Möchtest du, dass ich dir das Haus zeige, bevor mein Vater kommt?«

»Gern.« Alles war besser, als diese seltsame Unterhaltung weiterzuführen.

Sie tranken ihren Kaffee aus, dann verließen sie den Salon und gingen vom Kuppelsaal aus einen Flur entlang. Quindals Haus war geräumig und verwinkelt, und genau wie im Palast der Lady hatte Liam den Eindruck, dass manche Teile schon lange nicht mehr benutzt wurden.

»Wohnt ihr hier allein, dein Vater und du?«

»Wir hatten mal einen Diener, aber Vater war so unzufrieden mit ihm, dass er ihn schon nach zwei Tagen hinausgeworfen hat.«

»Und deine Mutter?«

»Sie ist tot.«

»Oh«, sagte Liam. »Tut mir leid. Ich wollte nicht -«

»Schon gut. Es ist lange her. Ich war noch ein Kind, als sie gestorben ist. Komm, ich zeige dir ein Bild von ihr.«

Sie gingen zu einer Nische, wo das Abendlicht auf ein Gemälde fiel. Darunter stand eine Vase mit Rosen, die die Köpfe hängen ließen. Vivana runzelte die Stirn. »Vater vergisst immer, ihnen Wasser zu geben. Bin gleich wieder da.«

Während sie mit der Vase davonging, betrachtete Liam das Bild. Es stellte eine Frau dar, der Vivana auffallend ähnlich sah. Dieselben braunen Haare, dieselben dunklen Augen. Und genau wie ihre Tochter trug sie einen bunten Rock, außerdem ein rotes Kopftuch.

So kleidete sich keine Frau aus Bradost. Liam brauchte einen Moment, bis er die farbenfrohe Tracht einordnen konnte.

Vivana kam zurück und stellte die Vase auf die Kommode.

»Deine Mutter war eine Manusch?«, fragte er.

Sie nickte. »Sie kam vor siebzehn Jahren nach Bradost. Als sie meinen Vater kennengelernt hat, entschloss sie sich hierzubleiben. Ein paar Monate später wurde ich geboren.«

Liam wusste nicht viel über jenes geheimnisvolle Volk, das in bunten Wagen von Stadt zu Stadt zog, denn nach Scotia kamen nur selten Manusch. Doch als er Vivana nun anblickte, fiel es ihm plötzlich auf: die mandelförmigen Augen, der olivfarbene Teint - Vivana sah selbst wie eine Manusch aus.

»Sie war sehr schön, nicht wahr?«, sagte Vivana mit einem Anflug von Wehmut in der Stimme.

»Vermisst du sie?«

»Ja. Sehr.«

»Ich meine Eltern auch«, rutschte es ihm heraus.

Sie blickte ihn argwöhnisch an. »Ich dachte, das ist erfunden. Dass sie tot sind, meine ich.«

Er schüttelte den Kopf.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Ich glaube, darüber sollte ich nicht reden.«

»Verstehe. Dein großes Geheimnis.«

Er bereute, dass er davon angefangen hatte, und beschloss, das Thema zu wechseln. »Erzähl mir von den Manusch.«

»Was willst du denn wissen?«

»Woher sie kommen. Warum sie durch das Land ziehen und nirgendwo lange bleiben.«

Vivanas Blick kehrte zu dem Gemälde zurück. »Sie haben keine Heimat mehr. Deshalb müssen sie umherwandern und dort leben, wo man sie willkommen heißt. Leider ist das nicht an vielen Orten der Fall.«

»Stimmt es, dass sie Schwarze Magie betreiben?«

»Dummer Aberglaube«, erwiderte sie verärgert. »Erzählt man sich das da, wo du herkommst?«

»Manchmal.«

»Hör nicht auf solches Geschwätz. Wenn die Leute etwas nicht verstehen, ist es immer gleich Schwarze Magie. Die Manusch verfügen über altes Wissen, das sie benutzen, um den Menschen zu helfen. Wissen über die Schattenwelt und ihre Bewohner.«

Liam betrachtete das Bild. Aus irgendeinem Grund wirkte Vivanas Mutter todtraurig, obwohl sie lächelte. Er hätte Vivana gerne noch mehr gefragt, doch in diesem Moment knarrte eine Tür.

»Das ist Vater.« Sie wandte sich ab und ging zum Saal zurück.

Liam verspürte leises Bedauern, als er ihr folgte. Mit ihr zu reden hatte ihm gefallen. Quindal hätte sich ruhig noch ein wenig Zeit lassen können.

Der Erfinder war so mürrisch wie eh und je, als er seine Tochter begrüßte. »Ich sehe, ihr habt euch schon miteinander bekannt gemacht. Hast du Liam Kaffee angeboten?«

»Natürlich«, erwiderte Vivana kühl. »Ich weiß, wie man mit Gästen umgeht.«

Er musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Wie du aussiehst. Hat dir deine Tante diesen Rock aufgeschwatzt?«

»Tante Livia hat ihn mir geschenkt.«

»Wann?«

»Vorgestern.«

»Also hast du dich wieder bei den Manusch herumgetrieben.«

»Und wenn schon.«

Liam tat, als betrachte er fasziniert das Mosaik. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was sich gerade zwischen Quindal und Vivana abspielte, und wollte es auch gar nicht wissen. Er wünschte, sie hätten mit ihrem Streit gewartet, bis er gegangen war.

»Morgen bleibst du zu Hause«, sagte Quindal. »Ich habe einen neuen Hauslehrer gefunden. Er will dich kennenlernen.«

»Aber morgen muss ich Onkel Madalin im Wanderzirkus helfen.«

»Sag ihm ab.«

»Das geht nicht. Ich habe es ihm versprochen. Schon letzte Woche.«

»Dein Unterricht ist wichtiger als dieser Manuschunfug.«

»Manuschunfug?«, fauchte Vivana. »Wenn Mutter dich hören könnte!«

Mit verkniffener Miene wandte sich der Erfinder an Liam. »Entschuldigst du uns?«

»Natürlich«, erwiderte Liam und war erleichtert, als die beiden im Salon verschwanden und dort weiterstritten. Sie bemühten sich, leise zu sein, dennoch hörte er Wortfetzen wie »undankbar«, »nur das Beste für dich« und »nicht so aufsässig«. Der Streit endete, als Vivana rief: »Ich gehe morgen zu Onkel Madalin, und wenn du eine Million Hauslehrer einbestellst!«

Sie rauschte mit zornigem Gesicht an Liam vorbei. »Hat mich gefreut«, sagte er mit einem schiefen Lächeln, doch sie nahm keine Notiz von ihm. Kurz darauf knallte eine Tür.

Liam blies die Backen auf. Schon während seines kurzen Gesprächs mit Vivana hatte er den Eindruck gewonnen, dass ihr Verhältnis zu Quindal nicht gerade das beste war. Doch dass es so schlimm stand, hätte er nicht gedacht.

Er wartete darauf, dass Quindal wieder aus dem Salon kam. Als das nicht geschah, trat er zögernd ein.

»Ich muss mich für meine Tochter entschuldigen«, sagte der Wissenschaftler. »Sie ist mitunter ein wenig aufbrausend.«

»Warum haben Sie nicht gesagt, dass Sie Familie haben?«

»Du hast es doch auch so erfahren.« Quindals Gesicht verfinsterte sich, als er den Tatzelwurm unter der Anrichte entdeckte. »Verschwinde. Na los!«

Widerwillig kroch das Geschöpf aus dem Zimmer, nicht ohne den Erfinder dabei anzufauchen.

»Ein eigenartiges Tier«, meinte Liam, als das Schweigen unangenehm zu werden drohte.

»Grässlich, nicht wahr? Ich wünschte, Vivana wäre nicht so vernarrt in dieses Vieh.«

»Was ist das für ein Wanderzirkus, von dem sie gesprochen hat?«

»Herumhüpfende Artisten, Wahrsagerei und anderer Kinderkram. Geh zum Platz der Erztugenden, dort kannst du dir diesen Mummenschanz mit eigenen Augen ansehen. Aber deswegen bist du nicht hier, oder?«

»Nein.«

Quindal nickte knapp. »Ich habe ein Plätzchen, wo wir uns ungestört unterhalten können.« Zu Liams Verwunderung schraubte er einen Finger seiner mechanischen Hand ab. Darunter kam ein gezackter Metallstift zum Vorschein, den er in ein winziges Loch in der Holztäfelung schob und drehte.

Hinter sich hörte Liam ein Schaben von Holz auf Stein. Er wandte sich um und sah, dass ein Regalsegment nach innen schwang und den Blick auf einen Durchgang mit unverputzten Mauern freigab.

»Eine Geheimtür«, stellte er fest.

»Theatralisch, ich weiß«, erwiderte Quindal. »Aber gewisse Vorsichtsmaßnahmen sind in diesen Zeiten leider unumgänglich.«

Er schraubte den Finger wieder an und nahm eine Gaslampe, und sie betraten den Gang. Der Erfinder betätigte einen Hebel, woraufhin sich das Regalsegment wieder schloss. Dann schob er ein verschnörkeltes Gitter beiseite, hinter dem sich eine Kabine aus rötlichem Holz befand. Sie stiegen ein, Quindal fischte eine Aetherkapsel aus seiner Hosentasche und schlug sie an der Kabinenwand auf wie eine Nuss. Als der Aether auszuströmen begann, steckte er die Kapsel in die dafür vorgesehene Öffnung. Verborgene Mechanik setzte sich knirschend in Gang. Quindal schloss das Gitter und drückte einen der kupfernen Knöpfe. Langsam und ruckelnd fuhren sie nach unten.