Liam fiel etwas ein. Er schob seine Hand in die Hosentasche. »Hier. Der Haustürschlüssel.«
»Behalte ihn. Schließlich gehörst du gewissermaßen zur Familie.«
»Vivana hat mir übrigens gesagt, dass sie Bescheid weiß. Was meinen falschen Namen betrifft, meine ich.«
»Ich musste sie einweihen. Sie hätte dich sonst in Gefahr bringen können.«
»Werden Sie ihr auch den Rest erzählen?«
»Nein.« Quindal bedachte ihn mit einem warnenden Blick. »Und du auch nicht, verstanden? Es genügt, dass wir beide in der Sache drinstecken.«
Hinter dem Gitter zog die verwitterte und von Spinnweben bedeckte Ziegelsteinwand des Schachtes vorbei. Nach zwanzig, dreißig Fuß tat sich schließlich ein Durchgang vor ihnen auf. Der Aufzug hielt an, und Quindal öffnete das Gitter.
Sie betraten einen unterirdischen Raum, in dem es zu Liams Überraschung beinahe so hell war wie in dem Saal unter der Glaskuppel, obwohl nirgendwo Lampen brannten. Er entdeckte zwei Öffnungen in der Decke, durch die Dämmerlicht fiel.
»Spiegel«, erklärte Quindal. »Sie leiten das Tageslicht durch Schächte in den Mauern.«
Liam blickte sich um. Der Keller war voller Pflanzen: exotische Büsche mit handtellergroßen Blüten und fleischigen Blättern sowie Klettergewächse, die an den Steinmauern emporwuchsen. Sie schienen hier unten prächtig zu gedeihen. »Was ist das für ein Raum?«
»Ein Versteck für schlechte Zeiten. Kaum jemand weiß davon - und das soll auch so bleiben, wenn du verstehst, was ich meine.«
Liam nickte. Unwillkürlich fragte er sich, ob dies der Raum war, in dem sich sein Vater mit den anderen Verschwörern getroffen hatte.
Quindal hatte die Gaslampe heller gedreht, denn das Tageslicht wurde von Minute zu Minute schwächer. Er durchquerte den Keller und warf einen Blick in jeden Winkel.
In seiner gesunden Hand hielt er eine Pistole.
»Wofür ist die Waffe?«, fragte Liam verwundert.
»Der Keller hat Verbindungen zu den Katakomben. Man weiß nie, was aus der Dunkelheit heraufkriecht. Einmal hat sich ein Ghul hierherverirrt.«
Liam unterdrückte ein Schaudern. Er hatte die Gerüchte um diese unheimlichen Geschöpfe immer für Ammenmärchen gehalten, für Geschichten, um Kinder zu erschrecken. Zum Glück erfuhr er erst jetzt, dass es sie wirklich gab. Hätte er das schon gewusst, als er mit Jackon in der Kanalisation umhergeirrt war, hätte er sich vermutlich vor lauter Angst nicht mehr rühren können.
Offenbar drohte keine Gefahr, denn Quindal schob die Pistole wieder in das verborgene Halfter unter seiner Weste. »Also«, meinte er, »was wolltest du mir erzählen?«
»Ich habe mich nachts im Palast umgeschaut und versucht, in den Kuppelsaal zu gelangen. Aber er wird zu gut bewacht. Es ist unmöglich, an den Spiegelmännern vorbeizukommen. Ich habe nach einem anderen Eingang gesucht, doch es scheint nur diesen einen zu geben.«
Quindal nickte. »Ich habe dir gesagt, dass es nicht leicht werden wird. Lady Sarka ist vorsichtig. Was wirst du jetzt tun?«
»Weitersuchen«, antwortete Liam. »Der Palast ist größer, als er aussieht. Möglich, dass ich etwas übersehen habe. Allerdings ist da noch eine andere Sache...«
»Hat man dich entdeckt?«
»Nein... nicht richtig. Irgendetwas ist auf mich aufmerksam geworden. Ein Tier, dachte ich zuerst. Aber es muss etwas anderes gewesen sein. Ein verkrüppelter Zwerg«, fügte er in Ermangelung einer besseren Beschreibung hinzu.
»Und dieses Ding hat dich nicht verraten?«
»Ja.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Nun ja, ich sitze nicht im Gefängnis.«
Der Erfinder stieß ein kurzes, freudloses Lachen aus. »Da hast du wohl recht.«
»Was war das für ein Wesen?«
Quindal zuckte mit den Achseln. »Vergiss nicht, dass Lady Sarka Alchymistin ist. Wer weiß, was sich alles in ihrem Haus herumtreibt.«
Liam hätte sich eine beruhigendere Antwort erhofft. Bei der Vorstellung, auf seinem nächsten Streifzug vielleicht noch schrecklicheren Wesen zu begegnen, stellten sich die Härchen an seinen Armen auf.
»Ich war auch nicht untätig«, sagte Quindal. Er gab Liam mit einer Geste zu verstehen, ihm zu einem Tisch zu folgen, auf dem eine Eisenkassette lag. Der Erfinder schloss sie auf und holte ein Buch heraus. Es besaß einen Ledereinband. Die Seiten waren gelb vor Alter.
»Was ist das?«, fragte Liam.
»Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt. An dieses Buch heranzukommen war nicht ganz ungefährlich. Bete, dass mich Corvas’ Krähen nicht beobachtet haben. Sonst ergeht es mir wie deinem Vater.«
Erinnerungen flackerten auf: Corvas, wie er den Botschaften der Rabenvögel lauschte. Sein Vater, tot auf dem Boden der Sternwarte. Doch Liam ließ nicht zu, dass der Schmerz ihn überwältigte.
»Ich habe darin etwas gefunden, das dich interessieren wird.« Quindal blätterte in dem Folianten, bis er zu der gesuchten Stelle kam.
Liam betrachtete die aufgeschlagene Seite. Illustrationen befanden sich an den Rändern, winzige, ineinander verschlungene Tiere und Fabelwesen, mit großer Kunstfertigkeit gezeichnet. Das alte Pergament bedeckten Zeichen und Symbole, deren Bedeutung er nicht kannte. Darunter befand sich eine Zeichnung. Das Buch, das sie darstellte, besaß einen gelben Einband, verziert mit einem Vogel, der mit ausgebreiteten Schwingen aus einem Flammenmeer aufstieg.
»Das Gelbe Buch von Yaro D’ar!«, stieß er hervor.
»Zumindest weißt du jetzt, wie es aussieht«, erwiderte Quindal.
Liam blätterte in den Seiten. Überall Symbole und handschriftliche, unleserliche Zeilen. »Steht darin noch mehr?«
»Nein. Nichts.«
»Aber das ergibt keinen Sinn. Warum bildet man ein Buch ab, ohne zu erklären, worum es sich handelt?«
»Hier, siehst du das? Es wurden Seiten herausgerissen. Übrigens nicht nur aus diesem Buch - aus fast allen alten Folianten in der Bibliothek von Bradost.« Die Zahnräder der mechanischen Hand surrten, als der Erfinder sie auf die vergilbten Seiten presste. »Jemand gibt sich offenbar große Mühe zu verschleiern, was es mit dem Gelben Buch von Yaro D’ar auf sich hat.«
Vivana hatte ihr Bett zur Seite geschoben und kauerte in der Zimmerecke. Dort, eine Armlänge über dem Boden und normalerweise hinter dem Kopfteil des Bettes versteckt, befand sich ein Loch in der Wand. Sie hatte es vor zwei Jahren gemacht, nachdem sie zufällig herausgefunden hatte, dass einer der Lichtschächte des Kellers an ihrem Zimmer vorbeiführte. Mit ihrem Brieföffner hatte sie den Putz abgeschabt und den Mörtel aus den Fugen gekratzt, bis sich ein Stein herausnehmen ließ und man einen Blick in den Schacht werfen konnte. Eine langwierige, mühsame Arbeit. Doch Vivana konnte hartnäckig sein, wenn es darauf ankam.
Ihr Vater wusste nichts von dem Loch.
Und er würde nie erfahren, dass Vivana, wenn sie an der Öffnung lauschte und ganz leise war, jedes Wort hören konnte, das im Keller gesprochen wurde.
19
Homunculi
Ehrfürchtig betrachtete Jackon die Heckflosse, die so hoch wie ein mehrstöckiges Haus vor ihm aufragte. Ein Höhenruder war zersplittert, im Rumpf klafften unzählige kleine Löcher und gaben den Blick auf das eiserne Gerippe im Innern frei. Eine abgebrochene Motorgondel hatte die Erde aufgerissen und lag mit verbogenen Propellerblättern am Ende einer zwanzig Fuß langen Furche. Goldener Aetherdampf strömte aus der Blechhülse.