Heute war wahrlich nicht sein Glückstag.
Wenn er nur wüsste, was er tun könnte, damit Darren und die anderen Ausgestoßenen ihn in Ruhe ließen...
Es war nicht der erste Vorfall dieser Art. Früher, als er noch in Flussnähe gelebt hatte, war keine Woche vergangen, in der man ihm nicht vorwarf, er hätte die anderen Bewohner der Abwasserkanäle nachts belästigt und im Schlaf heimgesucht. Er dachte, es würde besser werden, nachdem er sich eine andere Unterkunft gesucht hatte, weit weg von den Quartieren der Schlammtaucher. Ein Irrtum. Seitdem brachte er die Ausgestoßenen gegen sich auf, was noch schlimmer war, denn bei den meisten handelte es sich um gewalttätige Verrückte wie Darren.
Er wollte niemanden belästigen, tagsüber nicht, und erst recht nicht nachts. Er wollte sich nur um seine Netze kümmern, in der Hoffnung, mit seinen Funden etwas Geld zu verdienen. Und er trieb sich auch nicht in den Köpfen anderer Leute herum. Wie sollte so etwas überhaupt möglich sein?
Plötzlich war er so erschöpft, dass er sich hinlegen musste. Er schloss die Augen und hätte gerne gebetet, doch ihm fiel kein einziges Gebet ein.
Er musste eingeschlafen sein, denn als er die Augen öffnete, war es dunkel in seinem Schlupfwinkel. Von draußen drang Gaslicht herein. In der Ferne rauschte der Hauptsammler.
Er sah nach seiner Kerze. Lediglich ein unbrauchbarer Stummel war noch davon übrig. Er verfluchte sich dafür, dass er in seinem Elend vergessen hatte, sie rechtzeitig zu löschen. Jetzt hatte er kein Licht mehr.
Dunkelheit lockte die Ghule an...
Es musste nur die Gaslaterne am Zugang des Tunnels ausfallen, und schon wäre der gesamte Gang stockfinster.
Jackon schluckte trocken. Er durfte jetzt nicht in Panik verfallen. Es war schon schlimm genug, dass er beinahe verhungerte.
Er brauchte eine neue Unterkunft. Hier, so nahe bei der Pumpstation, durfte er nicht bleiben. Alys hatte die Ghule gewiss nicht satt gemacht. Möglich, dass nun ihre Gier erwacht war und sie die Tunnel durchstreiften, auf der Jagd nach neuer Beute.
Er holte seine Netze ein und stopfte sie in den Beutel. Die Säcke musste er hierlassen, denn sie würden ihn bei einem langen Marsch durch die Tunnel nur behindern. Da er keinen Wert darauf legte, Darren zu begegnen, beschloss er, die Kammer durch den Luftschacht zu verlassen. Vielleicht konnte er im Hafenviertel schlafen, bis er eine neue Kerze aufgetrieben hatte.
Gerade als er die Leiter hinaufkletterte, ertönte ein grässlicher Schrei. Jackon erschrak so sehr, dass er abrutschte und mit dem Rücken auf die Säcke fiel.
Was, bei allen Namen Tessarions, war das?
Er wälzte sich herum und starrte zum Eingang der Kammer hinaus.
Schatten tanzten über die Kanalwände. Zuckende Schemen, wie gewaltige Schwingen. Noch einmal ertönte der Schrei. Ein unmenschliches Krächzen, das ihm schier das Blut gefrieren ließ.
Steh auf!, sagte er sich. Steh auf und lauf! Doch seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Sämtliche Kraft schien seinen Körper verlassen zu haben.
Die Schatten wurden kleiner, verschwanden. Das sind keine Ghule, durchfuhr es ihn plötzlich. Dieses Krächzen... Das ist nur...
Eine Krähe. Sie landete in der Öffnung und blickte ihn unverwandt an.
Jackon war so verblüfft, dass er wie erstarrt liegen blieb. Vor lauter Hunger und Ärger mit Asher und Darren hatte er die Sache mit den Krähen völlig vergessen. Doch ganz offensichtlich hatten sie ihn nicht vergessen. Und jetzt folgten sie ihm schon in die Kanäle.
Jackons Entsetzen wich Zorn - Zorn darüber, dass ein dummer Vogel es geschafft hatte, ihm Todesangst einzujagen. Er federte hoch und holte mit seinem Beutel aus. Doch bevor er ihn werfen konnte, veränderte die Krähe ihre Gestalt. Sie wuchs und verschwamm zu einer unförmigen schwarzen Masse, aus Flügeln wurden Arme, aus Krallenfüßen Beine, aus einem Schnabel und zwei Knopfaugen bildete sich ein menschliches Gesicht, alles innerhalb eines Herzschlags.
Jackon ließ den Beutel fallen und taumelte keuchend zurück.
Wo eben noch der Vogel gesessen hatte, stand nun ein Mann. Sein Mantel war so schwarz wie Krähengefieder, sein haarloser Schädel leichenblass.
Seine Hand schnellte vor und schloss sich um Jackons Arm.
Jackon schrie.
2
Der Zweikampf
Lucien saß auf der Spitze des Phönixturms hoch über den Dächern Bradosts, rauchte Pfeife und genoss die laue Abendluft. Dies war sein Lieblingsplatz. Von hier oben überblickte man die ganze Stadt.
Sie war riesig, größer als jede andere Metropole der bekannten Welt. Von der Mündung des Rodis dehnte sie sich meilenweit über das Land aus, im Süden begrenzt von der Steilküste, im Osten und Westen von den Plantagen und im Norden von Karst, einer zerklüfteten Hochebene, durch die beharrlich der Wind heulte. Bradost selbst glich einem Flickenteppich aus Schiefer- und Bleidächern, aus Höfen, kleinen Gärten mit glitzernden Springbrunnen, Gassen, Treppen und Brücken. Der Fluss speiste zahllose Kanäle, die wie stahlblaue Adern zwischen den Hügeln verliefen. Von den Aetherküchen stieg goldener Dunst auf und vermischte sich mit dem Rauch aus den Schloten der Manufakturen. Wetterfahnen und Kuppeln gleißten in der Abendsonne. Wasserspeier und geflügelte Steinlöwen auf Erkern und Giebeln warfen lange Schatten, als belauerten sie die winzigen Menschen auf den Straßen.
Lucien liebte diese Stunde des Tages: wenn über den Dächern ein glutfarbener Schimmer lag, der dem Anblick etwas Unwirkliches verlieh, als sei Bradost ein verwunschener Ort, der jeden Moment in den Abgründen von Zeit und Raum verschwinden konnte.
Wind bauschte sein schlohweißes Haar auf und verwehte den Pfeifenrauch. Über den Felsenkämmen von Karst ballten sich Wolken zusammen. Es roch nach Regen.
Er seufzte leise, nahm einen letzten Zug und klopfte die Pfeife aus. Aber es war ohnehin höchste Zeit, dass er sich auf den Weg machte.
Die Turmspitze bestand aus sechs gemauerten Rippen, die eine Art riesige Laterne bildeten. Er ließ sich vom Schlussstein gleiten, bekam einen der Bögen zu fassen, schwang zurück und landete geschmeidig im Innern des Steingebildes. Der Phönixturm besaß keine Treppe, keine Rampe oder Leiter, weswegen es Menschen ohne Hilfsmittel nicht möglich war, hier herauf zu gelangen. Lucien aber war kein Mensch. Er trat zwischen zwei Steinbögen, bis seine Zehenspitzen über den Rand ragten. Viele hundert Fuß unter ihm kroch der Schatten des Turms über die Dächer wie der Stundenzeiger einer gewaltigen Sonnenuhr. Der Wind riss an seinem mondstaubfarbenen Wams.
Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und machte noch einen Schritt.
Statt in die Tiefe zu stürzen, stand er im nächsten Moment auf einer Straße aus verwitterten Steinplatten. Bradost war verschwunden; Gewitterwolken und Abendsonne waren einem blauschwarzen Firmament ohne Mond und Sterne gewichen. Vor ihm erhob sich ein Palast, größer und Ehrfurcht gebietender als alles, was Menschen jemals erbaut hatten. Lucien blieb einen Moment stehen und blickte zu den Mauern und Zinnen aus blau schimmerndem Gestein auf, betrachtete die verschachtelten Flügel und Dächer und Minarette, um die silbriger Staub wirbelte, ehe er durch das Tor trat.
Stille erfüllte die Säle und Treppenfluchten. Seine Schritte hallten. Er ging durch die einsamen Flure, bis plötzlich eine Stimme erklang.
»Du hier?«
Eine Frau erschien zwischen den Säulen. Genau wie er besaß sie nachtschwarze Haut und langes weißes Haar. Der Saum ihres Gewandes strich leise über den Boden.
»Nabeth«, begrüßte Lucien sie kühl. »Lange nicht gesehen.« Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen, und in ihrer Stimme lag ein Hauch von Spott. »Ich hätte nicht gedacht, dass du kommen würdest. Mutig von dir.«