Jackon schüttelte den Kopf. Wenn er noch länger darüber nachdachte, würde ihm schwindelig werden.
Als er sich nach einem Holzstück bückte, verzog er vor Schmerz das Gesicht. Er konnte förmlich spüren, wie sich sein Gesäß in einen einzigen blauen Fleck verwandelte. Dieser verdammte Ast! Da überstand er einen tödlichen Kampf ohne einen einzigen Kratzer, nur um sich anschließend beinahe sämtliche Knochen zu brechen.
Er warf das Holzstück auf den Müllhaufen und wollte sich gerade ein wenig ausruhen, als sein Blick auf eine schwarze Kutte fiel.
Schaudernd erinnerte er sich daran, was er kurz vor dem Absturz des Luftschiffs entdeckt hatte.
Er ging zu der Kutte. Der Körper des Spiegelmanns war verschwunden. Vor der Treppe lagen nur das Gewand und die zerbrochene Spiegelmaske.
Sein Mund wurde trocken, als er an das Gesicht unter der Maske dachte. Grau und runzelig war es gewesen, mit einer klaffenden Öffnung anstelle des Mundes und zwei kleinen Löchern anstelle der Nase. Und wo die Augen hätten sein sollen, hatte sich dünne Haut gespannt.
Keine Menschen...
Er rief sich Einzelheiten des Kampfes in Erinnerung. Erst jetzt wurde ihm klar, was er gesehen hatte: Spiegelmänner, die noch lebten, obwohl sie von Pistolenkugeln getroffen worden waren. Die mit den schrecklichsten Hieb- und Stichwunden weiterkämpften. Und dennoch waren mindestens zwei gestorben. Einer, als ihn der Blitz traf, und dieser hier, geradezu von Blei durchlöchert.
Jackon stieß die Kutte mit der Fußspitze an. Etwas, das wie Asche aussah, rieselte heraus.
Er schluckte. Wenn die Spiegelmänner starben, zerfielen sie etwa zu...
Ein Geräusch ließ ihn erschrocken herumfahren.
Umbra. Sie stand vor ihm auf dem Weg.
Jackon ließ den angehaltenen Atem entweichen. Warum musste sie immer ohne Vorwarnung auftauchen?
»Bist du in Ordnung?«, fragte sie unvermittelt.
»Ja. Ja, ich denke schon.«
»Die Herrin macht sich Sorgen um dich. Sie will sichergehen, dass dir nichts zugestoßen ist.«
»Mir geht es gut. Wirklich.«
Für einen Moment glaubte er, Besorgnis in ihren Augen zu sehen. Hatte Umbra etwa Angst um ihn? Sie, die ihn mit Vorliebe Kanalratte nannte und bei jeder Gelegenheit herumschubste? Doch schon im nächsten Augenblick war ihre Miene wieder so mürrisch wie eh und je.
»Wo ist die Herrin hingegangen?«, fragte er.
»In ihre Gemächer. Sie muss sich ausruhen.«
»Wie hat sie das gemacht? Ich meine, die ganzen Messerstiche... Sie hätte sterben müssen. Aber sie hatte nicht einmal einen Kratzer.«
»Was du nicht sagst«, meinte Umbra.
»Sie war so gut wie tot! Ich habe es gesehen!«
»Und am besten vergisst du es rasch wieder.«
Er blickte sie vorwurfsvoll an. »Nie erklärst du mir irgendwas.«
Die Leibwächterin seufzte. »Die Herrin hat gewisse Vorkehrungen getroffen, für den Fall, dass ihr jemand nach dem Leben trachtet. Genügt dir das für den Anfang?«
Das war nicht gerade eine erschöpfende Erklärung, aber Jackon kannte Umbra inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er nicht mehr erwarten durfte. Er nickte.
Sein Blick kehrte zu der Kutte zurück.
»Scheußliche Dinger, was?«, sagte Umbra leise.
Es war nicht das erste Mal, dass sie voller Abscheu von den Spiegelmännern sprach. »Die Asche«, sagte er. »Ist er -«
»Ja. Wenn sie sterben, werden sie wieder zu dem Stoff, aus dem sie erschaffen wurden.«
»Erschaffen?«
»Natürlich. Du hast doch nicht gedacht, sie sind menschlich?«
Er zuckte nur mit den Schultern.
»Man nennt sie Homunculi. Denk an meinen Rat: Halte dich von ihnen fern, wenn du kannst.« Umbra gab ihm einen Klaps auf die Schulter, bevor sie zum Haus zurückging und ihn mit seinen Fragen allein ließ.
20
Der Alchymist
Jeder Einbruch erforderte Vorbereitungen. Man musste sich umhören, Informationen einholen, sich mit der Gegend vertraut machen, das richtige Werkzeug auswählen. Diesmal war Lucien noch sorgfältiger gewesen als sonst. Und trotzdem reichte es vielleicht nicht. Denn Silas Torne war womöglich der gerissenste Mistkerl der ganzen Stadt.
Verborgen in der Dunkelheit kauerte Lucien auf einem Rohr, von dem rostige Feuchtigkeit tropfte. Rauchschwaden quollen aus mehreren Schloten in seiner Nähe und verhüllten den Blick auf den nächtlichen Chymischen Weg. Die Häuser von Alchymisten, Giftmischern, Wunderheilern und anderen Quacksalbern standen dicht an dicht zu beiden Seiten der engen Straße, hässliche Gebäude, die mit ihren verwitterten Backsteinfassaden an Manufakturen erinnerten. Unzählige Kamine, Rohre und Abzüge wuchsen aus Mauern und Bleidächern, überall traten Dämpfe aus, manche in den seltsamsten Farben. Die Gerüche ließen einem die Augen tränen und vernebelten einem den Verstand, und um die schillernden Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster machte man besser einen Bogen.
Die meisten Leute, die hier wohnten, waren harmlose Spinner oder Betrüger, die leichtgläubigen Kunden Wunderarznei und Liebestränke aufschwatzten. Einige jedoch verfügten über altes Wissen und machtvolle Formeln, die sie eifersüchtig hüteten. Ihre Häuser erkannte man an den stabilen Türen und den Gittern vor den Fenstern.
Oder sie hatten erst gar keine Fenster eingebaut, wie Silas Torne.
Lucien balancierte auf dem Rohr über die Kluft zwischen den beiden Häusern, zog sich an der Dachkante hoch und schlüpfte in einen rostigen Luftschacht, in den er gerade so hineinpasste. Im Innern umfing ihn ein feiner Nebel aus lauwarmem Wasserdampf. Von fern erklang das Stampfen von hydraulischen Pumpen.
Vorsichtig kroch er durch den abschüssigen Tunnel, bis er zu einem Gitter kam, an dem der Dampf Tropfen bildete. Er wollte das Gitter aus der Halterung lösen, hielt jedoch inne, als er einen Draht entdeckte, der in einem winzigen Loch in der Schachtwand verschwand.
Sogar hier, dachte er mit einer Mischung aus Beklemmung und Respekt.
Er stemmte Füße und Ellbogen gegen die Wände, zog den Bauch ein und zupfte an dem Draht. Zwischen Bauchnabel und Schlüsselbein, keinen Fingerbreit von seiner Haut entfernt, schnellten Klingen aus den Blechplatten, stellten sich auf wie die Rückenstacheln einer Echse.
Lucien schluckte. Seine Hand wanderte zu seinem Gürtel und fand blind eine Kneifzange, mit der er den Draht durchtrennte. Die Klingen verschwanden wieder.
Er klappte das Gitter auf und kroch weiter, noch wachsamer als zuvor.
Irgendwann wurde der Tunnel eben. Lucien lauschte mit angehaltenem Atem. Nichts. Nur das Zischen der Pumpen. Er zückte einen Schraubenzieher und hebelte ein Bodensegment auf.
Der Raum unter ihm war dunkel. Aus einem runden Treppenschacht schien flackerndes Licht herauf. Der Steinboden glänzte vor Feuchtigkeit. Von irgendwoher kam ein unangenehmer fauliger Geruch.
Leise entfernte Lucien die Blechplatte. Als er gerade durch das Loch klettern wollte, hörte er ein Geräusch.
Schlurfende Schritte.
Hastig bedeckte er die Öffnung mit der Platte, ließ nur einen schmalen Spalt und spähte hindurch.
Ein zerlumpter Mann trat mit schleppenden Schritten in den Lichtschein, das Gesicht bleich, die Augen leer. Wurzelartige Triebe wuchsen aus seiner Haut und rankten sich über seine Schultern und Arme, seinen Nacken, verschwanden in seinem Ohr.
Die Gestalt war nicht allein. Mindestens fünf oder sechs weitere schlurften in dem Halbdunkel umher.
Lotossklaven. Vermutlich arme Teufel aus der Grambeuge, die Torne unter einem Vorwand in sein Haus gelockt und zu willenlosen Knechten gemacht hatte. Gefährliche Gegner. Und leider zu dumm, um auf seine Unauffälligkeit hereinzufallen.