Er musste wohl oder übel weiterkriechen. Allerdings wurde der Schacht kurz darauf so abschüssig, dass Lucien beinahe auf dem Kopf stand. Bei jeder Bewegung musste er darauf achten, nicht den Halt zu verlieren, damit er nicht bäuchlings in die Tiefe rutschte. Zu allem Überfluss war der Nebel jetzt so dicht, dass er kaum noch etwas sah.
Was, wenn der Schacht weitere Fallen enthielt? In diesem Dampf hatte er keine Chance, sie rechtzeitig zu entdecken.
Seine Bauchdecke kribbelte unangenehm.
Licht fiel durch die Ritzen zwischen den Wandsegmenten. Lucien versuchte gar nicht erst, etwas zu hören, denn die Pumpen waren inzwischen viel zu laut. Er musste es einfach riskieren.
Mit seinem Schraubenzieher machte er sich an der Blechwand zu schaffen. Plötzlich blieb sein Ärmel an der gelockerten Platte hängen, und das Werkzeug rutschte ihm aus der Hand. Polternd verschwand es im Schacht.
Lucien erstarrte. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis das Klappern endlich aufhörte. Er konnte nur hoffen, dass die Pumpen den Lärm übertönt hatten.
Er bog die Platte mit bloßen Händen auf, kroch kopfüber durch die Öffnung, ließ sich fallen, rollte sich auf dem Boden ab und gelangte blitzschnell auf die Füße, die Hand auf dem Knauf seines Wurfmessers.
Niemand da. Glück gehabt.
Er befand sich in einem Gang mit nackten Steinwänden. An einem Eisenhaken hing eine Laterne. Lautlos huschte er in den nächsten Raum, eine runde Kammer mit Regalen. Hunderte von Flaschen, Phiolen, Ampullen und Dosen standen darin.
Lucien ging an den Regalen entlang und las die Beschriftungen. Duftwasser, Aphrodisiaka, Medizin für alle erdenklichen Krankheiten und Leiden. Opium, Traumlotos und zwei Dutzend andere Drogen. Daneben die Gifte: leichte wie Brechwurz und Königspfeffer, aber auch tödliche wie Nuriat und Silberstaub. Viele dieser Substanzen waren sehr wertvoll und zeugten vom Geschick ihres Herstellers, allerdings konnte man die meisten davon im Laboratorium beinahe jedes Alchymisten finden.
Nicht jedoch die Elixiere in der Glasvitrine.
Voller Unbehagen betrachtete Lucien das halbe Dutzend Bleiphiolen, spürte die unheimliche Präsenz, die sie umgab. Was sie genau enthielten, konnte er nur vermuten. Harpyienblut vielleicht oder Chimärenessenz. Trünke, die dem, der sie zu sich nahm, unvorstellbare Kräfte verliehen. Denn für jedes dieser Fläschchen hatte ein Schattenwesen sein Leben gelassen.
Ein unbezahlbarer Schatz. Lucien spielte mit dem Gedanken, die Vitrine aufzubrechen, verwarf ihn jedoch wieder. Es wäre falsch, sich daran zu bereichern. Schließlich wäre er beinahe selbst in einer solchen Phiole geendet.
Er schob einen Vorhang zur Seite und gelangte in einen kleineren Raum, wo sich Kisten und Korbtornister stapelten. Lucien sah sich ein wenig darin um. Beim Hinausgehen fiel ihm eine Truhe auf, halb von einem löchrigen Tuch bedeckt. Sie war mit Blei verkleidet, was seine Neugierde weckte. Sein Instinkt sagte ihm, dass es sich lohnen könnte, sie näher anzuschauen. Wenn er schon die Vitrine mit ihren Kostbarkeiten verschonte, so fand er vielleicht hier etwas, das er zu Geld machen konnte.
Er schob das Tuch zur Seite, zückte seinen Dietrich und machte sich an dem Schloss zu schaffen, bis es klickte und sich der Deckel öffnen ließ.
Die Truhe enthielt einen Gürtel aus rußfarbenem Metall, einen Silberdolch mit gebogener Klinge, eine Kette aus Raubtierzähnen, einen gefiederten Lederhut, eine Affenpfote, eine Kerze aus menschlichem Talg und andere Dinge. Das meiste davon war Plunder, doch Lucien konnte spüren, dass einige dieser Utensilien noch einen Rest magischer Kraft bargen.
Torne war nicht nur Alchymist, sondern auch eine Art Antiquitätenhändler. Er kaufte diese Gegenstände Leuten ab, die nicht im Traum ahnten, was da seit Ewigkeiten in ihrem Keller verstaubte. Oder er nahm sie den Schattenwesen ab, die er getötet hatte, und verkaufte sie für viel Geld an jemanden, der sich ihre Magie zunutze machen wollte.
Lucien fragte sich, ob auch Jernigans Lampe durch seine Hände gegangen war.
Er wühlte in der Truhe und entdeckte ein Amulett. Es bestand aus grün schimmernder Keramik und war neuneckig, nicht viel größer als ein Schilling und mit verschlungenen Linien versehen, die, wenn man sie auf eine bestimmte Weise betrachtete, ein fratzenhaftes Gesicht zu bilden schienen.
Die Haut an Luciens Fingern prickelte. Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht. Das Amulett war kostbarer als der übrige Inhalt der Truhe zusammen. Dass es einfach so inmitten dieses Plunders lag, deutete darauf hin, dass Torne selbst nicht wusste, was er da besaß.
Lucien schob den Talisman in seine Hosentasche, schloss den Truhendeckel und ging weiter, dem Stampfen und Zischen entgegen.
Vor ihm tat sich das Herzstück des Hauses auf, ein riesiger Saal, dessen Decke in den Dampfschwaden verschwand. Die Luft war zum Schneiden dick. Pfützen bedeckten den Steinboden. Gewaltige Öfen, mit metaphysischen Symbolen versehen, glühten vor Hitze. Ventile zischten. Zahnräder trieben die Pumpen an. Blubbernde Flüssigkeiten quollen durch Rohre aus Kupfer und Glas und plätscherten in bauchige Kessel, die an feuchten Ketten über den Kohlepfannen hingen. Der mächtigste Kessel stand in der Mitte des Saales, ein Monstrum von der Größe einer Droschke, von dem grünlicher Dampf aufstieg.
Lautlos huschte Lucien hinein, verbarg sich hinter Pumpzylindern, Öfen und gebündelten Rohren, die wie Pfeiler aus dem Boden ragten. Als er ein Brüllen hörte, blieb er stehen und spähte zu einer Ecke des Saals.
Dort stand ein Käfig, in dem ein Mantikor gefangen war.
Das Ungeheuer brüllte noch einmal und warf seinen Löwenkörper gegen die Eisenstäbe, sein Skorpionstachel zuckte wütend. Unter normalen Umständen hielt kein Gefängnis dieser Welt einen Mantikor lange auf. Dieser jedoch war bereits zu geschwächt, um etwas gegen das Gitter auszurichten. Blutige Striemen verliefen kreuz und quer über seinen Leib, sein Fell war stumpf, die Schwingen waren zerrupft und löchrig.
Lucien konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal einen echten Mantikor gesehen hatte. Vielleicht vor hundertfünfzig, zweihundert Jahren. Sie waren selten geworden, und er schätzte, dass es auf der ganzen Welt noch höchstens zwei Dutzend dieser furchterregenden Kreaturen gab. Es musste extrem aufwendig gewesen sein, ihn zu finden und zu fangen.
Beim Anblick des Geschöpfs verspürte Lucien einen Anflug von Mitleid. Nicht mehr lange, und Torne hatte den Mantikor gebrochen. Vielleicht steckte seine Lebenskraft schon nächste Woche in einer Bleiphiole.
In diesem Moment entdeckte er den Alchymisten.
Torne saß an einem Tisch, tauchte seinen Federkiel in ein Tintenfass und schrieb. Eine silbrige Robe verhüllte seinen mageren Leib, die Füße steckten in Schnabelschuhen, das Haar bildete verfilzte Büschel, wo es nicht längst ausgefallen und wunden Flecken gewichen war.
Lucien lächelte. Er hätte nicht erwartet, dass es so einfach werden würde.
Er pirschte sich an den Alchymisten heran, bis er zwei Schritte hinter ihm stand. »Schlaf«, sagte er.
Torne erschlaffte, sein Kopf sank auf das Pergament.
Behutsam setzte Lucien Torne aufrecht hin, dann löste er sein Seil vom Gürtel und fesselte die Arme des Alchymisten hinter der Stuhllehne, bevor er zur Seite trat und den schlafenden Mann betrachtete.
»Was bist du doch für ein abgrundtief hässlicher Kerl«, murmelte er.
Torne war recht groß und so dünn, dass sich überall unter der Robe seine Knochen abzeichneten. Seine Wangenknochen stachen hervor, sein dünner Bart glich einem umgedrehten U und reichte bis zu seinem Schlüsselbein. Die jahrzehntelange Arbeit mit giftigen und ätzenden Substanzen war nicht spurlos an ihm vorübergegangen: kaum eine Stelle seiner Haut, die nicht von Ausschlag und nässenden Pusteln bedeckt war.
Plötzlich bekam das Gesicht des Alchymisten Risse, wie Lehm, der in der Sonne trocknete. Die Haut blätterte ab, und darunter kam das weißhäutige Antlitz eines Jünglings zum Vorschein, der nicht die geringste Ähnlichkeit mit Torne hatte.