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»Du kennst mich doch. So ein Spektakel lasse ich mir nicht entgehen.«

»Lass dich ansehen. Du hast dich verändert. Und diese Kleidung - skandalös.«

»Nein. Nur Menschenkleidung.«

Nabeth hob eine Augenbraue. »Du hattest schon immer recht ungewöhnliche Vorlieben.«

Lucien hatte schon jetzt genug von diesem Gespräch. »Sind die anderen im großen Saal?«

»Ja. Warte«, sagte sie, als er losgehen wollte. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist? Sie werden nicht erfreut sein, dich zu sehen.«

Er lächelte dünn. »Falls es dich beruhigt: Das beruht auf Gegenseitigkeit.«

Plötzlich stand Nabeth ganz nah vor ihm. »Lucien, Lucien, ganz der Alte«, sagte sie und strich ihm mit den Fingerkuppen über die Wange. »Ein Einzelgänger wie eh und je. Wie schade, dass du damals so ein Narr gewesen bist. Dir und mir, uns hätte die Ewigkeit gehören können.«

Da lag sie falsch, aber er verzichtete darauf, sie zu korrigieren. Wer es schaffte, dreihundert Jahre an einer Illusion festzuhalten, war ganz offensichtlich immun gegen gute Worte und Vernunft. Behutsam schob er ihre Hand fort. »Lass uns gehen«, sagte er. »Ich will nichts verpassen.«

Gemeinsam durchquerten sie die Säulenhalle. Nabeth konnte ihre Enttäuschung nur schwer verbergen.

»Hast du den Harlekin gesehen?«, fragte Lucien.

»Nein. Aber er soll bereits hier sein.«

»Ist es wahr, dass er Aziel herausgefordert hat?«

»Ja.«

Also stimmten die Gerüchte. Lucien hatte bis zuletzt daran gezweifelt.

»Hat Aziel dir nichts gesagt?«, fragte Nabeth. »Ich dachte, neuerdings versteht ihr euch wieder prächtig.«

»Wie kommst du darauf?«

»Man hört das eine oder andere.«

Er hatte nicht die geringste Lust, ihr zu erklären, wie er zu Aziel stand. Sein Verhältnis zum Herrscher der Alben war kompliziert. »Du solltest nicht alles glauben, was die Leute erzählen. Sag mir lieber, wie da drin die Stimmung ist.«

»Stimmung?«

»Na wegen der Herausforderung.«

»Viele sind froh, dass es so gekommen ist, obwohl niemand es ausspricht. Sie sind dieser Welt überdrüssig. Und Aziel hat schon lange nicht mehr viele Anhänger.«

So hatte auch Lucien es eingeschätzt. Der Tag versprach, überaus interessant zu werden.

Sie kamen zum Eingang des großen Saales. Nabeth blieb unvermittelt stehen.

»Was ist?«

Sie zögerte. »Lass mich allein hineingehen. Ich will nicht, dass es Gerede gibt. Bitte versteh das.«

Sie schritt davon. Lucien konnte es ihr nicht verdenken: Niemand wollte mit einem Ausgestoßenen gesehen werden. Und ihm lag ohnehin nicht sonderlich viel an ihrer Gegenwart.

Als er in der Halle eintraf, waren die anderen Angehörigen seines Volkes bereits anwesend. Zu Hunderten standen sie auf den Galerien. Alben sahen einander sehr ähnlich; Unterschiede gab es lediglich in den Gesichtern: Manche waren hager, andere breit oder fein geschnitten, einige Männer trugen Kinnbärte, während viele Frauen ihr Haar zu langen Zöpfen geflochten hatten.

Sie bedachten ihn mit ablehnenden, sogar feindseligen Blicken. Niemand wagte zu sprechen, doch er konnte förmlich hören, was die Anwesenden über ihn dachten:

Dieb!

Ausgestoßener!

Verschwinde!

Du gehörst nicht hierher!

Unbeirrt trat er zur Galerie und legte die Hände auf die Brüstung. Trotz des Gedränges gelang den Alben in seiner Nähe das Kunststück, mehrere Schritte Abstand zu ihm zu halten, als leide er unter einer ansteckenden Krankheit.

Als sich ein Portal öffnete, galt die Aufmerksamkeit der Menge wieder der Halle.

Zwei Krieger mit Hornmasken und gezackten Lanzen postierten sich links und rechts der Pforte, aus der Aziel trat.

Der Herrscher der Alben war größer und massiger gebaut als die meisten seiner Untertanen. Ein weißer Ziegenbart zierte sein Kinn, seine Augen glitzerten wie zwei neugeborene Sterne. Eine dunkle Robe verhüllte seine Schultern und den mächtigen Brustkorb. Er entdeckte Lucien auf der Galerie, und für einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke. Lucien zwinkerte ihm zu, woraufhin Aziel sich abrupt abwandte.

Die Menge blickte erwartungsvoll zur gegenüberliegenden Seite der Halle.

Aus dem Durchgang schlurfte der Harlekin.

Hundert Jahre Gefangenschaft hatten deutliche Spuren hinterlassen: Der ehemals stattliche und hochmütige Alb wirkte hager und ausgezehrt. Narben verunstalteten sein Gesicht, sein kurzes Haar stand in alle Richtungen ab. Statt der bunten Flickenkleidung, der er seinen Namen verdankte, trug er ein schlichtes, fast schäbiges Gewand.

Seine Augen leuchteten fiebrig, als er seinen alten Widersacher erblickte. »Schön, dich zu sehen, Aziel«, sagte er mit einem dünnen Lächeln.

Für gewöhnlich zeigten Alben ihre Gefühle nicht, und sie hätten nie zu erkennen gegeben, auf wessen Seite sie standen. Lucien jedoch hatte ein ausgeprägtes Gespür für solche Dinge, weshalb ihm die gespannte Unruhe nicht verborgen blieb, die sich beim Auftritt des Harlekins im Saal ausbreitete. Es war, wie Nabeth sagte: Die Mehrheit der Alben hatte diesen Tag herbeigesehnt, in der Hoffnung, dass die ungeliebte Herrschaft Aziels endlich ein Ende fand.

Ein Wunder, dass er sich überhaupt so lange halten konnte, dachte Lucien. Doch stark ist er, das muss man ihm lassen.

Aziels Stimme dröhnte, erfüllt von uralter Macht: »Wie konntest du entkommen?«

»Niemand kann mich ewig festhalten. Nicht einmal du.«

»Jemand hat dir geholfen.«

»Wie kannst du so etwas sagen?«, erwiderte der Harlekin liebenswürdig. »Zweifelst du etwa an der Treue deines Volkes?«

»Mein Volk ist loyal. Es hält sich an die Regeln. Im Gegensatz zu dir.«

»Ich war immer schon der Meinung, dass Regeln überschätzt werden.«

»Du bist ein Lügner«, knurrte Aziel. »Und ein Schwächling obendrein. Du hättest verschwinden sollen, statt meine Zeit zu vergeuden.«

»Spar dir die Beleidigungen und lass uns endlich kämpfen.«

»Wieso müssen wir das wiederholen? Du weißt, dass du keine Chance hast.«

»Wir werden sehen«, sagte der Harlekin und lächelte wieder, wobei eine Narbe seine Oberlippe spaltete.

Aziel schnaufte ungeduldig und machte ein Handzeichen, woraufhin ein dritter Alb aus den Schatten unter den Galerien trat. Zwischen den beiden Rivalen blieb er stehen. In der rechten Hand hielt er einen Stab, der in einer knotigen Spitze endete.

»Gekämpft wird nach den alten Regeln«, rief er zu den Galerien hinauf. »Kein Alb tötet einen anderen.«

»Kein Alb tötet einen anderen!«, wiederholte die Menge wie mit einer Stimme.

»Der Kampf endet, wenn ein Kämpfer aufgibt.«

»Der Kampf endet, wenn ein Kämpfer aufgibt!«

»Wer siegt, ist neuer Herrscher der Alben.«

»Wer siegt, ist neuer Herrscher der Alben!«, hallte es von den Saalwänden wider.

Der Richter zog sich in den Schatten zurück, und die beiden Rivalen brachten sich in Position. Obwohl mehr als hundert Jahre seit ihrem letzten Kampf vergangen waren, erinnerte Lucien sich noch gut daran. Auch der Harlekin konnte seine vernichtende Niederlage nicht vergessen haben; dennoch lächelte er nach wie vor. Er führt etwas im Schilde, dachte Lucien, der es einem Mann ansah, wenn er ein Ass im Ärmel hatte. Nur was?

Schweigen herrschte in der Halle, als Aziel und der Harlekin einander belauerten. Dann streckte Aziel den Arm aus, und auf seiner Handfläche bildete sich ein Traum.

Anfangs hatte er die Form einer schillernden Blase. Sie dehnte sich aus, fiel von Aziels Hand, rollte über den Boden und begann, Auswüchse zu bilden. Es sah aus, als versuche jemand, sich aus einem Gummiballon zu befreien. Das Geschöpf, das sich schließlich aufrichtete, war schwarz wie der tiefste Abgrund und schien ganz aus Dornen und Klingen zu bestehen.