Und auf sämtlichen Dächern saßen Krähen und beobachteten das Geschehen auf den Straßen.
Auch am zweiten Tag nach dem Anschlag hatte die Angst Bradost fest im Griff. Jeder fürchtete, er könnte der Nächste sein, an dessen Tür die Spiegelmänner klopften.
Als Liam die Chimärenbrücke erreichte, hielt er den Wagen an. Vor ihm lag Scotia mit seinen windschiefen Dächern, Wetterfahnen und bemalten Türen. Mit seinen Gassen, die er wie seine Westentasche kannte. Es war gerade einmal zwei Wochen her, dass er seinen Karren mit den Aetherfässern durch die Straßen geschoben hatte und in den Aufruhr geraten war. Doch es erschien ihm wie eine Ewigkeit.
Er blickte zum Hügel hinauf. Die Kuppel der Sternwarte glühte in der Abendsonne.
Jemand hatte die Fenster zugenagelt. An der Tür hing vermutlich ein Schild, das ihn aufforderte, sich bei seiner Rückkehr nach Bradost umgehend beim Ministerium der Wahrheit zu melden. Liam stellte sich vor, wie er durch die Zimmer ging: von seiner Kammer in den Eingangsraum, weiter in die Küche und das Zimmer seines Vaters, die Treppe hinauf zur Kuppel mit dem Blitzfänger. Überall sah er Staub liegen, auf den Aetherfässern, den Möbeln, seinen Büchern, bevor ihm klar wurde, dass die Spiegelmänner wahrscheinlich das meiste davon beschlagnahmt und leere Zimmer zurückgelassen hatten.
Auch seinen Vater hatten sie mitgenommen und in irgendeinem namenlosen Grab am Stadtrand verscharrt.
Liam schlang die Zügel so fest um seine Hand, dass das Lederband schmerzhaft in sein Fleisch schnitt. Zum hundertsten, zum tausendsten Mal fragte er sich, warum sein Vater ihn nicht früher ins Vertrauen gezogen hatte. Hätte Liam von seinen Plänen gewusst, hätte er vielleicht verhindern können, dass er in Gefahr geriet, hätte ihm helfen können, mehr über das Gelbe Buch herauszufinden, ohne dass Corvas davon erfuhr. Aber in seiner Vorsicht hatte sein Vater niemandem vertraut, nicht einmal dem eigenen Sohn.
Liam wünschte sich nichts mehr, als ein letztes Mal zur Sternwarte zu gehen, durch die Zimmer zu wandern und nachzuholen, was er wegen seiner überstürzten Flucht nicht hatte tun können: Abschied zu nehmen - von seinem Zuhause, seinem alten Leben, seinem Vater. Aber es war zu gefährlich. Im Grunde durfte er sich nicht einmal hier aufhalten, am Rande Scotias, denn das Risiko, dass ihn jemand sah und erkannte, war zu groß. Er war jetzt Liam Hugnall. Liam Satander existierte nicht mehr. Besser, er fand sich endlich damit ab.
Er trieb die Pferde an und fuhr über die Brücke.
Die Sonne stand bereits tief über den Dächern, als er den Palast erreichte. Das Luftschiff war inzwischen verschwunden, allerdings erinnerten nach wie vor umgeknickte Bäume, ausgerissene Büsche und zerfurchtes Erdreich an den Absturz. Zwar hatten Jackon, Ibbott Hume und er die schlimmsten Schäden beseitigt, doch bis sich der Garten von der Zerstörung vollständig erholt haben würde, würden Monate vergehen.
Liam stellte den Wagen im Schuppen ab und brachte die Pferde zu den Ställen, bevor er in den Gesindeflügel ging und mit den anderen zu Abend aß. Jackon spürte wohl, dass ihm etwas zu schaffen machte, und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Liam gab eine ausweichende Antwort und zog sich wenig später unter dem Vorwand, er sei müde, in seine Kammer zurück.
Er lag lange wach, bis er endlich einschlief. In seinem Traum ging er ziellos durch die Sternwarte, durch Zimmer, die nichts enthielten als Staub, der bei jedem seiner Schritte aufwallte. Er suchte nach seinem Vater, doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte ihn nicht finden, er rief seinen Namen und bekam keine Antwort. Als er aufwachte, war sein Gesicht feucht von Tränen, sein Hals fühlte sich eng und rau an, sodass er Mühe hatte zu atmen.
Er schälte sich aus der verschwitzten Decke, öffnete das Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Die Glocken der Kathedrale schlugen zwei Uhr, das einzige Geräusch in der Stille, die auf der Stadt lastete.
Liam sah wieder vor sich, wie sein Vater verzweifelt auf ihn einredete und ihm das Versprechen abnahm, mit Quindals Hilfe nach dem Gelben Buch von Yaro D’ar zu suchen. Da wurde ihm klar, dass er nicht länger warten konnte. Er musste das Buch finden, damit er endlich erfuhr, wofür sein Vater gestorben war.
Quindals Warnung kam ihm in den Sinn. Du musst ab jetzt zehnmal so vorsichtig sein wie bisher. Verhalte dich unauffällig. Tue nichts, womit du dich verdächtig machen könntest...
Zum Teufel mit Quindal und seiner Vorsicht! Er konnte nicht noch einen Tag untätig herumsitzen. Was er vorhatte, war nun einmal gefährlich. Das würde sich niemals ändern, auch wenn er zehn Jahre wartete.
Er zog sich an. Als er gerade seine Tür öffnen wollte, fiel ihm das unheimliche Zwergenwesen wieder ein, das ihm bei seinem ersten Streifzug durch die dunklen Flure gefolgt war. Leises Grauen regte sich in ihm. Er hoffte inständig, dass es zu keiner weiteren Begegnung dieser Art kam, aber ausschließen konnte er es nicht.
Er holte ein Messer aus dem Schrank, schob es sich hinter den Gürtel und verließ leise seine Kammer.
Im Gemeinschaftsraum hing noch der Geruch der Kohlsuppe, die es zum Abendessen gegeben hatte. Durch die Fenster konnte er die beiden Spiegelmänner erkennen, die seit dem Anschlag vor dem Seiteneingang des Gesindeflügels Wache standen. Er huschte an der Tür vorbei und folgte dem Korridor zu den Wirtschaftsräumen, bis er zur Küche kam.
Obwohl er sich inzwischen besser im Palast auskannte, hatte er bislang nicht in Erfahrung bringen können, ob es außer dem bewachten Flur im Hauptflügel noch einen anderen Zugang zu den Gemächern der Lady gab. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Suche in den verlassenen Flügeln des Anwesens fortzusetzen.
Vorsichtig öffnete er die Tür. Stille herrschte im Bankettsaal. Als er gerade eintreten wollte, bemerkte er ein Glitzern auf den Galerien. Spiegelmasken! Ruckartig wich er in die Küche zurück. Sogar hier hatte Corvas Wachen postiert. Er zählte drei - nein, vier. Unmöglich, an ihnen vorbeizukommen. Lautlos schloss er die Tür.
Welche Möglichkeiten blieben ihm jetzt noch? Der einzige Weg zu den anderen Palastflügeln, der für ihn infrage kam, führte durch den Bankettsaal. An die Treppe in der Eingangshalle brauchte er gar nicht erst zu denken - dort wimmelte es Tag und Nacht von Spiegelmännern.
Dieser verdammte Anschlag! Wäre der Angriff auf Lady Sarka nicht gewesen, hätte er sich in Ruhe im Palast umsehen können. Aber so, mit Wachen an jeder Ecke, hatte er nicht den Hauch einer Chance.
Frustriert ging er zu seiner Kammer zurück.
An Schlaf war nicht zu denken, deswegen setzte er sich ans offene Fenster und atmete die kühle Nachtluft ein. Quindal hatte recht: Er musste abwarten, bis in der Stadt wieder so etwas wie Normalität eingekehrt war, ob ihm das gefiel oder nicht.
Irgendwann hörte er Schritte. Er blickte aus dem Fenster und sah eine Gestalt um die Ecke des Gesindeflügels kommen.
Corvas.
Liam zog den Kopf ein. Der Bleiche blieb wenige Schritte von seinem Fenster entfernt stehen und bückte sich. Als er sich wieder aufrichtete, sah Liam, dass er etwas in der Hand hielt. Einen Regenwurm. Das Tier wand sich in den blassen Fingern, bevor Corvas es zu seinem Mund führte - und aß.
Ekel stieg in Liam auf, gefolgt von jähem, verzehrendem Hass. Er zog sein Messer. Was, wenn er aus dem Fenster kletterte, sich lautlos anpirschte und Corvas von hinten die Kehle aufschlitzte? Bis die beiden Spiegelmänner vor dem Gemeinschaftsraum etwas bemerkten, wäre er längst wieder in seiner Kammer. Niemand würde je herausfinden, dass er es getan hatte.