Seine schweißnassen Finger krampften sich um den Messerknauf. Hör auf zu denken - tu es einfach! Wenn er Corvas tötete, machte er Bradost auf einen Schlag zu einem besseren Ort, dann wäre keiner mehr da, der dem verräterischen Krächzen der Krähen lauschte.
Doch dann ging Corvas seines Weges, und der günstige Moment war vorüber. Liam duckte sich, kauerte sich unter der Fensterbank zusammen und hielt den Atem an, bis die Schritte des Bleichen verklangen.
Er schluckte schwer. Seine Hand zitterte, als er das Messer auf den Boden legte.
Er konnte niemanden töten. Nicht einmal einen Mörder wie Corvas.
Liam fühlte sich mutlos und schwach und hasste sich dafür.
25
Springen
Kurz nachdem Liam gegangen war, verabschiedete sich auch Jackon von den anderen und schlurfte müde zu seiner Kammer. Obwohl es ein anstrengender Tag gewesen war, konnte er nicht einschlafen. In seinen Arbeitskleidern lag er auf dem Bett und dachte über Liam nach. Es war nicht das erste Mal, dass er seinen Freund so verschlossen und in sich gekehrt erlebt hatte. Jackon vermutete, dass er an seine Eltern gedacht hatte. Liam trauerte immer noch um sie - natürlich tat er das. Wie viel Zeit war seit ihrem Tod vergangen? Höchstens ein paar Wochen. Viel zu wenig, um über so viel Trauer und Schmerz hinwegzukommen. Jackon konnte sich noch gut daran erinnern, wie verzweifelt er nach dem Tod seiner Eltern gewesen war. Acht Jahre war das nun her, aber er vermisste sie immer noch.
Als er gerade das Licht löschen wollte, erschien Umbra.
Verwundert setzte er sich auf. »Du?«
»Die Herrin will mit deiner Ausbildung weitermachen.«
»Jetzt schon? Ich meine, es ist doch gerade erst zwei Tage her, dass sie...«
»Jetzt fang nicht wieder damit an«, fiel die Leibwächterin ihm ins Wort. »Frag die Herrin, wenn du mehr wissen willst.«
Kurz darauf fand er sich im geheimen Zimmer wieder, wo Lady Sarka ihn bereits erwartete. Sie saß in ihrem Lehnstuhl. Blonde Locken fielen auf ihre Schultern.
Jackon konnte nicht anders, als sie unverhohlen anzuglotzen, während er auf der Couch Platz nahm. Ihr Gesicht, ihr ganzer Körper war so schön und makellos wie eh und je. Nirgendwo die kleinste Spur der grausamen Verletzungen, die sie erlitten hatte. Nicht einmal ein Kratzer.
»Was schaust du mich so an?«, fragte sie freundlich.
»Die Messerwunden«, stammelte er. »Das viele Blut... Wie kann es sein, dass Ihr...«
»... dass ich vor dir sitze, als wäre nie etwas geschehen?«
Er nickte.
»Du solltest doch inzwischen bemerkt haben, dass ich über Kräfte verfüge, die die Möglichkeiten gewöhnlicher Menschen weit übersteigen.«
Jackon konnte gerade noch akzeptieren, dass es Leute gab, die nicht schlafen mussten. Doch dass jemand dem sicheren Tod entkam, noch dazu vollkommen unbeschadet, ging ihm über den Verstand. »Ja, aber...«, begann er.
»Später, Jackon. Zu gegebener Zeit wirst du mehr erfahren. Jetzt sollten wir zusehen, dass wir deine Ausbildung fortsetzen.« Lady Sarka stand auf, verschwand hinter dem Wandschirm und kam mit einer Tasse zurück, die eine gelbliche Flüssigkeit enthielt. »Trink davon.«
»Was ist das?«
»Ein Tee aus Bittergras. Du bist sehr aufgeregt. Er wird dir beim Einschlafen helfen.«
Er nippte an der Tasse.
»Dir ist es gelungen, die Tür zu öffnen«, sagte die Lady. »Nun musst du lernen, dich außerhalb deines Seelenhauses zurechtzufinden.«
Schaudernd dachte Jackon daran, wie der monströse Moskito - der Bote - auf seiner Brust gelandet war. Er war nicht gerade versessen darauf, an diesen seltsamen Ort zurückzukehren.
»Die Stadt, die du gesehen hast, besteht aus Millionen von Seelenhäusern. Sie ist unermesslich groß. Zu Fuß wärst du Tage unterwegs, um auch nur zum benachbarten Viertel zu gelangen. Deshalb musst du dich auf andere Weise fortbewegen. Du musst springen.«
»Springen?«, fragte er verständnislos.
»Denk immer daran, dass es nur deine Seele ist, die sich in der Stadt der Träume aufhält. Für deine Seele sind Entfernungen bedeutungslos. Sie kann innerhalb eines Augenblicks jeden Ort erreichen, zu dem sie will.«
»Wie?«
»Indem du all deine Gedanken auf diesen Ort richtest.«
»So, als würde ich die Tür suchen?«
»Ja. Denk an dein Ziel, stell es dir vor, so klar und deutlich du kannst, und im nächsten Moment bist du dort. Das ist springen.«
»Aber wohin soll ich springen? Ich kenne keine Orte in der Stadt.«
»Such die Seelenhäuser von Menschen, die du kennst. Denk an ihren Namen, ihr Gesicht, den Klang ihrer Stimme. Je besser du sie kennst, desto leichter wird es dir fallen, ihr Seelenhaus zu erreichen.«
»Habt Ihr auch ein Seelenhaus?«
»Natürlich.« Der Glanz in ihren Augen wurde kalt. »Aber du wirst dich davon fernhalten, verstanden?«
Er nickte eingeschüchtert.
»Ebenso von den Seelenhäusern von Umbra, Corvas und all meinen übrigen Bediensteten. Ich will nicht, dass du ihre Träume störst. Du kennst genügend andere Leute. Spring zu den Seelenhäusern von Schlammtauchern.«
»Was soll ich tun, wenn ich dort bin?«
»Geh hinein. Schau dir ihre Träume an. Lerne, sie zu verändern. Aber pass auf, dass du dich nicht darin verirrst.«
Jackon hatte die Tasse ausgetrunken und stellte sie auf das Tischchen. Der Tee begann bereits zu wirken. Er fühlte sich zunehmend schläfrig und legte sich hin.
»Noch etwas musst du wissen«, sagte die Lady. »Im Herzen der Stadt steht ein gewaltiger Palast. Möglicherweise siehst du ihn bei deinen Streifzügen. Du darfst ihm unter keinen Umständen zu nahe kommen.«
»Warum nicht?«
»Aziel, der Herrscher der Träume, lebt dort. Er duldet keine Menschen in seiner Stadt und könnte versuchen, dich anzugreifen, wenn er dich bemerkt. Meide deshalb Aziels Nähe, so gut du kannst.«
Palast meiden. Seelenhäuser suchen, versuchte er sich einzuprägen, bevor ihm die Augen zufielen.
Er träumte, dass er einen schummrigen Abwasserkanal entlangging. Schlammtaucher hausten in den Nischen und Abzweigungen. Einige von ihnen waren keine richtigen Menschen, sondern hatten Krähenköpfe und krächzten mit ihren Schnäbeln. Jackon schenkte ihnen keine Beachtung und machte sich auf die Suche nach der Tür. Es dauerte nicht lange, bis er sie in der Tunnelwand fand. Diesmal musste er sich nicht sonderlich anstrengen, um sie zu öffnen - es schien nur beim ersten Mal schwierig zu sein und danach nicht mehr.
Er trat hindurch.
Draußen bot sich ihm derselbe Anblick wie bei seinem ersten Besuch: Dämmriges Zwielicht herrschte in der Straße, Träume flackerten in den Fenstern der Seelenhäuser. Schwammartige Sammler krochen von Tür zu Tür, während geflügelte Boten um die Dächer schwirrten.
Jackon fokussierte seine Gedanken und erinnerte sich an seine Anweisungen.
Er musste lernen zu springen.
Lady Sarka hatte gesagt, er könne jeden Ort erreichen, zu dem er wollte. Am besten fing er mit einem Ort ganz in seiner Nähe an.
Einen Steinwurf entfernt stand ein Gebäude, das an die Patrizierhäuser der Altstadt erinnerte. Jackon betrachtete die Spitze des kleinen Eckturms. Dort will ich hin, dachte er und richtete all seine Gedanken auf dieses Ziel.
Im nächsten Moment schlitterte er die Dachschräge hinab. Er bekam die Wetterfahne zu fassen und hielt sich daran fest. Er hatte es geschafft! Er war von seinem Seelenhaus zur Turmspitze gesprungen, und es war ihm nicht einmal besonders schwer gefallen. Er fühlte sich nur ein wenig benommen.
Rittlings setzte er sich auf die Turmspitze, den Mast der Wetterfahne zwischen den Oberschenkeln, und ließ seinen Blick über die Stadt schweifen.