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Die Aussicht raubte ihm schier den Atem. Seelenhäuser aller Größen und Bauweisen, so weit das Auge reichte. Und überall fliegende Boten, die silbrige Tropfen in die Kamine fallen ließen.

Er fühlte sich bereit für einen schwierigeren Sprung.

Er dachte an Liam, so wie die Lady es ihm erklärt hatte: Er stellte sich Liams Gesicht vor, seine blonden Haare, seine Stimme, bis er seinen Freund deutlich vor sich sah. »Bring mich zu seinem Seelenhaus«, sagte er laut.

Dieser Sprung kostete ihn wesentlich mehr Kraft als der erste. Er taumelte, als er in einer anderen Straße landete, und fiel zu Boden. Ein neugieriger Bote wurde auf ihn aufmerksam und schwirrte um ihn herum. »Hau ab!«, schrie Jackon und wedelte mit den Armen, bis das Geschöpf davonflog.

Er spürte, dass er seine Konzentration zu verlieren drohte. Er fing bereits an zu vergessen, was er hier tat. Mit all seiner Willenskraft sammelte er sich.

Ich lerne zu springen, sagte er sich mit geschlossenen Augen. Ich habe Liams Seelenhaus gesucht.

Als seine Gedanken wieder klarer wurden, öffnete er die Augen.

Das Seelenhaus seines Freundes war ungefähr so groß wie seines und besaß schlichte weiße Wände und eine eiserne Kuppel anstelle eines Daches. Eine Sternwarte, dachte Jackon verwundert. Warum eine Sternwarte?

Er trat zu einem der Fenster.

Liam träumte. Er streifte durch staubige Korridore und Zimmer, rief einen Namen und wirkte dabei so verzweifelt, dass Jackon Mitleid überkam. Offenbar suchte er seine Eltern und konnte sie nirgendwo finden.

Jackon griff nach dem Türknauf. Sollte er hineingehen und seinem Freund Trost spenden? Nein, besser nicht. Schließlich hatte Lady Sarka ihm befohlen, sich von den Träumen ihrer Bediensteten fernzuhalten.

Er nahm die Hand vom Türknauf und überlegte, wessen Seelenhaus er stattdessen besuchen könnte.

Ihm kam eine Idee.

Auch der nächste Sprung war sehr anstrengend, doch diesmal traf ihn der Schock der Landung wenigstens nicht unvorbereitet. Als er in der Gasse erschien, fokussierte er augenblicklich seine Gedanken, womit er verhinderte, dass ihn die Verwirrung überwältigte. Er schüttelte die Benommenheit ab und blickte sich um.

Darrens Seelenhaus glich einer schäbigen Baracke aus Holz, Wellblech und löchrigem Segeltuch. Durch die Ritzen in den Wänden sah Jackon das Flimmern von Darrens Träumen.

Er öffnete die Tür und trat ein.

Anders als in seinem eigenen Seelenhaus konnte er Wände, Boden und Decke des Verschlags auch dann noch erkennen, als er drinnen war. Halbdurchsichtige Traumbilder füllten das Innere aus, schemenhaft wie die Phantasmagorien einer Laterna magica.

Für Darren jedoch war der Traum überaus real. Der missgestaltete Hüne hetzte durch Abwasserkanäle und Katakomben, auf der Flucht vor einer Horde geifernder Ratten.

Wut stieg in Jackon auf, als er sich daran erinnerte, wie Darren ihm jahrelang das Leben schwer gemacht, ihn bedroht und gedemütigt hatte. Höchste Zeit, es ihm heimzuzahlen.

Er stellte sich dem Missgestalteten in den Weg. »Hallo, Darren.«

Der Hüne blieb ruckartig stehen. Seine blutunterlaufenen Augen weiteten sich. »Du!«

»Ziemlich viele Ratten«, bemerkte Jackon. »Und sie scheinen nicht gut auf dich zu sprechen zu sein. Was ist passiert? Hast du ihr Futter gestohlen?«

Darren warf einen panischen Blick über seine Schulter. »Lass mich vorbei! Sie haben mich gleich eingeholt!«

»Warum läufst du dann in eine Sackgasse?«

Seine eigenen Träume zu beeinflussen kostete Jackon viel Kraft, doch diese durchsichtigen Bilder zu verändern war nicht sonderlich schwer.

»Das ist keine Sackgasse!«, schrie Darren. »Das ist...« Er verstummte. Wo eben noch ein Tunnel gewesen war, erhob sich plötzlich eine Wand. »Was hast du gemacht?«

Der Hüne wirbelte herum und rannte in eine Abzweigung. Die Rattenhorde flutete über den Boden und folgte ihm.

Jackon musste nur ein paar Schritte zur Seite gehen, um abermals vor Darren zu stehen. Auch diesen Tunnel verschloss er mit einer Wand.

»Geh weg!«, kreischte sein alter Feind. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen!«

»Das habe ich nicht vergessen«, erwiderte Jackon. »Dabei hast du alle meine Sachen in den Kanal geworfen. Du weißt, was das für einen Schlammtaucher bedeutet. Ich hätte sterben können.«

Darren sprang ins Wasser und watete durch die stinkende Schlammbrühe, bis er festen Boden erreichte. Bevor er weiterlaufen konnte, erschien Jackon vor ihm.

»Du kannst nicht vor mir weglaufen. Nicht hier.«

Wimmernd fiel der Hüne auf die Knie. »Bitte«, heulte er. »Ich rühre dich nie wieder an. Ich schwöre es. Nur geh... endlich... weg.«

»Ich fürchte, dafür ist es leider zu spät«, sagte Jackon.

Scharen von Ratten schwammen durch das Kanalwasser. Darren schrie, als sie den Sims hinaufkletterten und sich quiekend auf ihn stürzten. Sie verbissen sich in seinen Armen und Beinen, er wälzte sich auf dem Boden und war im nächsten Moment über und über von Ratten bedeckt.

Er verschwand - und mit ihm die Traumbilder. Eine silbrige Schicht bedeckte den Boden der leeren Baracke. Ein Sammler kam durch die Tür gekrochen und begann, die verbrauchten Träume aufzusaugen.

Jackon lächelte bei der Vorstellung, dass Darren gerade irgendwo in den Kanälen schweißgebadet aufwachte und schreiend gegen Ratten kämpfte, die gar nicht existierten. Zu gerne hätte er den Hünen in seinem Loch besucht und ihm erklärt, dass er ihm noch viel schlimmere Albträume bescheren konnte, wenn ihm der Sinn danach stand.

Als er wenig später auf der Couch im geheimen Zimmer erwachte, lächelte er immer noch.

Allmählich fand er an der Sache Gefallen.

26

Der Drudenfuss

Lucien vermutete, dass er sich inzwischen unter Lady Sarkas Palast befand. Die Tunnel sahen vollkommen anders aus als die Katakomben unter der Altstadt. Die Wände wirkten glasartig und wiesen Wölbungen und seltsame Auswüchse auf, so als wäre das Gestein bei großer Hitze geschmolzen und zu bizarren Formen erstarrt, als es erkaltete. Von irgendwoher kam ein blaues Glühen, das die Höhlen mit fahlem Licht erfüllte.

Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, während er durch die Gänge schlich. In den Palast der Lady einzudringen stellte selbst für einen Dieb seines Ranges eine Herausforderung dar. Er hätte sich gerne sorgfältig darauf vorbereitet, aber Aziel hatte ihn zur Eile gedrängt und ihm so die Möglichkeit genommen, alle Eventualitäten zu durchdenken. Also musste er sich wohl oder übel auf sein Improvisationstalent verlassen und zusehen, dass er irgendwie zurechtkam.

Ich hätte ihm sagen sollen, dass er sich selbst darum kümmern soll, wenn es ihm so wichtig ist, dachte er missmutig. Warum bin ich nur so verdammt gutmütig?

Er bog um eine Ecke und verbarg sich hastig hinter einem Wandvorsprung, als er zwei Spiegelmänner entdeckte. Sogar hier unten hatte Lady Sarka Posten aufgestellt. Ihre Wachsamkeit kannte wahrlich keine Grenzen.

Verstohlen spähte er an dem steinernen Wulst vorbei. Die Spiegelmänner standen vor einer Treppe, die nach oben führte - vermutlich der Zugang zum Palast, den er suchte. Das Licht ließ ihre Masken blau schimmern. In den Händen hielten sie ihre bevorzugten Waffen, Rabenschnäbel.

Gegen diese Kreaturen war seine magische Unauffälligkeit nutzlos; dank ihrer Spiegelmasken konnten sie ihn sehen. Glücklicherweise kannte er noch andere Methoden, um sich vor unwillkommenen Blicken zu verbergen.

Er zog eine Rauchglasphiole aus einer Schlaufe seines Gürtels, entkorkte sie und trank die winzige Menge Flüssigkeit, die sie enthielt. Schwindel überkam ihn, und er schloss die Augen, bis es vorüber war. Die Substanz hieß javva. Sie verfügte über einige erstaunliche Eigenschaften - unter anderem bewirkte sie, dass einen die Spiegelmänner der Lady nicht sehen konnten. Es war nicht leicht gewesen, an das Elixier heranzukommen. Außer den Manusch kannten nur zwei oder drei Alchymisten das Geheimnis seiner Herstellung, und sie hüteten es wie einen Schatz.