Nachdem Lucien die Phiole wieder in seinen Gürtel geschoben hatte, huschte er lautlos den Gang entlang. Unbemerkt schlüpfte er zwischen den Spiegelmännern hindurch und eilte die Treppe hinauf.
Er kam zu einer Tür, die er vorsichtig öffnete. Dahinter verlief ein Gang mit mehreren Fenstern. Es war eine Stunde vor Sonnenaufgang, und trübes Dämmerlicht fiel durch das Bleiglas.
Die Hinweise, die er suchte, befanden sich vermutlich in den Gemächern der Lady. Wie er dorthin gelangte, wusste er nicht; Aziel hatte ihm keine Zeit gelassen, Baupläne von dem Anwesen aufzutreiben. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich von seinem Instinkt leiten zu lassen.
Er schlich durch menschenleere Flure und Zimmer und erreichte schließlich die Eingangshalle. Gaslampen an den geschnitzten Pfeilern verströmten grünliches Licht. Überall standen Spiegelmänner herum, mindestens ein halbes Dutzend.
Lucien machte einen Durchgang aus, der, so nahm er an, zum Kuppelsaal führte. Da er sich nicht zu sehr auf das javva verlassen wollte, hielt er sich im Schatten der Galerien, während er die Halle durchquerte. Unbemerkt betrat er den Durchgang, hastete einen Korridor entlang und stahl sich an den Spiegelmännern vorbei, die ihm unterwegs begegneten.
Wenig später tat sich ein gewaltiger Saal vor ihm auf. Ehrfürchtig betrachtete er die gläserne Kuppel hoch über seinem Kopf. Dies war das Herzstück des Palastes. Niemand kam hier hinein, es sei denn, er wurde von Lady Sarka eingeladen.
Jetzt musste er nur noch ihre Gemächer finden.
Stimmen erklangen. Lucien versteckte sich hinter einem Wandschirm und beobachtete zwei Gestalten, die den Saal durchquerten.
Corvas und Umbra.
Es gab nur wenige Menschen, die ihm ebenbürtig waren - diese beiden gehörten dazu. Als er vor zwei Jahren in das Anwesen der Familie Damon eingebrochen war, um den Medusenring zu stehlen, hatte Lady Sarka Corvas und Umbra auf ihn angesetzt, denn Lord Damon war ein enger Freund von ihr. Ihre beiden Leibwächter hatten ihn tagelang durch die Stadt gejagt und sogar einen seiner Schlupfwinkel gefunden. Zwar war er mit knapper Not entkommen, aber den Medusenring hatte er zurücklassen müssen - eine Schlappe, die ihm heute noch zu schaffen machte.
Er tat gut daran, sich nicht von ihnen im Palast erwischen zu lassen.
»Macht der Junge Fortschritte?«, fragte Corvas, während er am Wandschirm vorbeiging. Lucien schauderte beim Anblick des bleichen Schädels. Corvas wurde von Jahr zu Jahr krähenhafter. Er roch sogar wie eine Krähe.
»Die Herrin ist sehr zufrieden mit ihm«, antwortete Umbra. »Ihr habt ihn unterschätzt. Er gibt sich Mühe. Heute Nacht hat er sich so verausgabt, dass er sich in seinem Zimmer noch mal hinlegen musste...«
Zu Luciens Erleichterung verließen die beiden die Halle.
Abgesehen von dem zweiflügligen Portal, durch das er hereingekommen war, gab es im Kuppelsaal nur eine einzige Tür. Sie befand sich auf der Galerie. Er schlich die Treppe hinauf.
Mehrere Spiegelmänner machten im Zwielicht ihre Runden. Lucien wartete, bis keines der Geschöpfe in seiner Nähe war, und griff nach dem Türknauf. Furcht durchzuckte ihn, ehe er das Silber berührte. Seine Hand begann zu brennen, und er zog sie hastig zurück, bevor der Schmerz intensiver wurde.
Was zum Teufel...
Im gleichen Moment entdeckte er den Drudenfuß. Er war in den Türsturz eingekerbt, ein kleiner fünfzackiger Stern, von einem Kreis umgeben.
Lucien fluchte innerlich. Gegen einen Drudenfuß war er machtlos.
Warum, bei allen Dämonen, schützte Lady Sarka ihre Gemächer mit solch einem Symbol?
Dabei ahnte er die Antwort bereits: Weil sie wusste, dass Aziel oder einer seiner Diener in ihren Palast eindringen würde. Weil sie ihre Geheimnisse vor den Alben schützen wollte.
Er schlich die Treppe hinunter, versteckte sich hinter einer Säule und dachte nach.
Wenn diese Tür mit einem Drudenfuß versehen war, konnte er davon ausgehen, dass die Lady auch alle übrigen Zugänge zu ihren Gemächern gesichert hatte, umsichtig, wie sie war. Nach einem anderen Weg brauchte er sich gar nicht erst umzusehen. Vermutlich waren sogar die Fenster mit Bannzeichen geschützt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen und in Ruhe zu überlegen, was er gegen den Drudenfuß unternehmen konnte.
Vorher aber musste er etwas erledigen. Wenn Aziel ihn schon nicht für seine Dienste bezahlte, musste er eben sehen, wie er anderweitig auf seine Kosten kam.
Er huschte zu einer Vitrine, die ihm auf dem Weg zur Galerie aufgefallen war, und machte sich mit einem seiner Dietriche daran zu schaffen. Mit einem kaum hörbaren Klicken öffnete sich das Schloss. Vorsichtig klappte Lucien die Vitrine auf und betrachtete das Silbergeschirr darin.
Er entschied sich für etwas Besteck und einen ziselierten Kelch. Nicht gerade die Ausbeute des Jahrhunderts, aber mehr konnte er nicht tragen, ohne dass ihn das Gewicht behinderte.
Wenigstens war der Einbruch nun nicht völlig erfolglos gewesen. Er verstaute die Beute in seinen Hosentaschen, arrangierte das übrige Geschirr so, dass das Fehlen der Stücke nicht auf den ersten Blick auffiel, und verschloss die Vitrine.
In diesem Moment spürte er die Präsenz.
Sie machte sich als Kribbeln auf seiner Haut bemerkbar, als leichte Unruhe in seinen Gliedern. Eigentlich war sie schon die ganze Zeit da gewesen, aber er hatte sich so intensiv auf seine Aufgabe konzentriert, dass sie ihm nicht aufgefallen war.
Er horchte in sich hinein. Es dauerte eine Weile, bis ihm allmählich klar wurde, um was für eine Präsenz es sich handelte.
Nein. Das kann nicht sein. Ich muss mich irren.
Das letzte Mal, dass er etwas Vergleichbares gespürt hatte, war mehrere hundert Jahre her. Damals hatte er gedacht, es handele sich um ein einmaliges Phänomen, das sich nicht wiederholen würde.
Bei einer Angelegenheit dieser Tragweite durfte er sich nicht allein auf sein Gespür verlassen. Er musste sich Gewissheit verschaffen.
Er verließ den Kuppelsaal und eilte durch die Flure, bis er zur Eingangshalle kam. Dort war die Präsenz merklich stärker. Lucien schlich in die Richtung, in der er ihre Quelle vermutete, huschte an den Wachen vorbei und fand sich wenig später in einem Gebäudetrakt wieder, der wesentlich schlichter beschaffen war als der Rest des Anwesens. Die Küche und diverse Wirtschaftsräume befanden sich hier.
Er betrat einen Korridor mit mehreren Türen, hinter denen vermutlich die Unterkünfte der Bediensteten lagen. Vor einer Kammer blieb er stehen.
Die Härchen an seinen Armen stellten sich auf, so machtvoll war hier die Präsenz.
Er öffnete die Tür und schlüpfte in das halbdunkle Zimmer. Es war karg eingerichtet. Schmutzige Kleider hingen über einer Stuhllehne. Auf dem kleinen Tisch stand ein Krug mit Wasser.
Im Bett lag ein Junge.
Er mochte vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein, war recht mager und hatte blasse Haut und rote Haare. Ein ganz normaler Heranwachsender, dem man die Fähigkeiten, die in ihm schlummerten, nicht im Mindesten ansah.
Um sicherzugehen, berührte Lucien den Jungen behutsam an der Stirn.
Ja. Ein Traumwanderer. Seine Gabe erwachte gerade erst, was vermutlich die Erklärung dafür war, warum Aziel noch nichts davon wusste. Aber Lucien spürte auch, dass seine Kräfte rasch wuchsen.
Lady Sarka hatte den Harlekin befreit, damit er Aziel besiegte und mit den Alben die Welt verließ. Nun stellte sich heraus, dass in ihren Diensten ein Traumwanderer stand.