Was hatte sie vor?
Der Junge regte sich, als Lucien seine Hand fortnahm. Er öffnete die Augen und blickte den Alb verschlafen an.
»Du kannst mich sehen?«, fragte Lucien. Nur außergewöhnliche Menschen waren dazu fähig, seine Unauffälligkeit zu durchschauen. Menschen wie Corvas.
Der Junge blinzelte verwirrt. »Schlaf«, flüsterte Lucien, woraufhin er auf das Kissen zurücksank, die Augen schloss und regelmäßig zu atmen begann. Vermutlich würde er sich nach dem Aufwachen nicht mehr an seinen Besucher erinnern.
Wenig später eilte Lucien durch die glasartigen Tunnel unter dem Palast. Er durfte Aziel nichts von seiner Entdeckung verraten. Aziel fühlte sich bedroht wie noch nie zuvor. Wenn er erfuhr, dass die Lady einen Traumwanderer gefunden hatte, wäre dessen Leben in Gefahr. Lucien liebte die Menschen - er liebte sie viel zu sehr. Er würde es nicht ertragen, wenn dem Jungen seinetwegen etwas zustieße.
Er hatte keine andere Wahl, als unterzutauchen, bis er wusste, was er tun sollte.
27
Phönixtag
Es war früh am Abend, als Liam den Palast verließ. Im Westen glich der Himmel einem flammenden Streifen, und die Gassen und Kanäle der Altstadt versanken allmählich in Schatten. Wind strich raschelnd über die Platanen am Straßenrand, trieb Staub und Abfall vor sich her und verwehte den Aetherdampf, der golden von den Schloten des Kessels aufstieg.
Kaum hatte Liam das Magistratsgebäude hinter sich gelassen, konnte er den Phönixturm sehen. Wie eine Nadel überragte das schlanke Gebäude die benachbarten Stadthäuser und zeichnete sich dunkel vor dem Abendhimmel ab. Die Spitze mit ihren sechs steinernen Bögen ähnelte einer Laterne, der Turm selbst bestand aus Gestein, das viel Rost enthielt und von innen heraus zu glühen schien, wenn das Sonnenlicht im richtigen Winkel darauf fiel.
Liam konnte sich noch gut daran erinnern, wie der Phönixtag entstanden war. Vor sieben Jahren, auf den Tag genau zwölf Monate nach dem Verschwinden des Phönix, hatte ein Unbekannter neben dem Turm ein Feuer angezündet, um des alten Wächters von Bradost zu gedenken und ihm zu zeigen, wie sehr er der Stadt fehlte. Seitdem versammelten sich Jahr für Jahr Menschen auf dem Platz, entzündeten Feuer, die bis zum nächsten Morgen brannten, und zogen um Mitternacht mit Fackeln durch die Straßen, um den Phönix zu bitten, zurückzukehren und wieder über die Stadt zu wachen. Lady Sarka duldete diese Tradition, obwohl sie normalerweise öffentliche Festlichkeiten aller Art zu unterbinden versuchte, aus Angst vor Aufständen. Sie wusste, wie viel der Phönixtag den Menschen bedeutete. Ihn zu verbieten hätte die Leute nur noch unzufriedener gemacht, als sie ohnehin waren.
Liam fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, während er die Chimärenbrücke überquerte. Er fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, sich ausgerechnet hier mit Vivana zu treffen. Der Phönixtag erfreute sich bei den Bewohnern Scotias großer Beliebtheit. Es war nicht ausgeschlossen, dass ihn jemand erkannte.
Als er kurz darauf den Platz erreichte, stellte er fest, dass diesmal nur wenige Menschen gekommen waren, verglichen mit den Vorjahren. Vermutlich hatte die angespannte Stimmung in der Stadt die meisten veranlasst, zu Hause zu bleiben. Unauffällig blickte er sich um. Nirgendwo ein bekanntes Gesicht. Er beruhigte sich etwas.
Die Leute hatten bereits begonnen, Reisig und Holz zu großen Haufen aufzuschichten. Natürlich waren auch Soldaten anwesend. Sie stützten sich auf ihre Hakenlanzen und beobachteten wachsam das Geschehen. Zusätzlich hockten Dutzende von Krähen auf den unteren Turmsimsen. Lady Sarka mochte den Phönixtag dulden - weniger vorsichtig war sie deswegen nicht.
Er fand Vivana auf der anderen Seite des Platzes, wo sie im Schatten stand.
»Hallo, Liam«, sagte sie lächelnd.
Er hätte sie beinahe nicht erkannt, denn statt ihres bunten Rocks trug sie eine schlichte Hose, ähnlich seiner eigenen, sowie abgenutzte Lederschuhe und ein helles Leinenhemd, das ihr ein wenig zu groß war. Sogar darin sah sie hübsch aus. Er räusperte sich, als ihm klarwurde, dass er sie anstarrte. »Wo hast du Ruac gelassen?«, erkundigte er sich.
»Zu Hause. Die Leute reagieren manchmal komisch auf ihn.«
»Vorgestern hattest du ihn doch auch dabei.«
»Naja, das war im Labyrinth. Dort ist alles ein bisschen anders.«
Sie setzten sich auf den Bordstein vor dem Hoftor eines Hotels. Das Schweigen, das sich einstellte, war keins von der Sorte, bei der man sich den Kopf zerbrach, was man als nächstes sagen könnte, nur damit es aufhörte. Liam genoss es einfach, neben ihr zu sitzen.
Währenddessen versank die Sonne hinter den Dächern, und die Grenze zwischen Schatten und Licht wanderte langsam an der Turmmauer nach oben. Bald erstrahlte nur noch die Spitze in rostrotem Glühen.
»Er ist wunderschön, nicht wahr?«, sagte Vivana.
»Ja.«
»Hast du gewusst, dass er das älteste Gebäude Bradosts ist?«
Liam betrachtete das Mauerwerk. Es wies keine Fenster auf, denn der Turm war vollständig massiv. Weder Treppen noch Leitern führten zur Spitze hinauf. »Ich habe mich immer gefragt, wer ihn gebaut hat.«
»Der Legende nach hat ihn der Phönix selbst errichtet, als er nach Bradost kam.«
Liam kannte diese Geschichte, genau wie alle anderen, die sich um den Phönix rankten. Sein Vater hatte sie ihm erzählt, als er klein gewesen war.
»Kannst du dich noch daran erinnern, wie er verschwunden ist?«, fragte Vivana.
»Ich weiß noch, dass es ein eiskalter Morgen war.«
Sie nickte. »Ich bin von seinem Schrei aufgewacht. Ich bin zum Fenster gerannt und habe gesehen, dass er fort war. Einfach verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Ich glaube, ich habe mich noch nie so einsam gefühlt.«
Liam wusste, was sie meinte. Er hatte genauso empfunden.
Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Was hast du an diesem Morgen gemacht?«
»Ich bin früh aufgewacht, genau wie du. Als ich gesehen hatte, dass der Phönix nicht mehr da war, wollte ich meine Eltern wecken, aber sie wussten es schon. Gemeinsam sind wir hierhergegangen, so wie die halbe Stadt. Irgendwann ist uns wohl klar geworden, dass er nicht zurückkommen würde, und meine Mutter hat mich in den Arm genommen. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich sie weinen sah.« So viel hatte er gar nicht erzählen wollen. Verlegen zuckte er mit den Schultern.
»War das lange, bevor sie gestorben sind?«
»Meine Mutter starb vor anderthalb Jahren. Mein Vater vor zwei Wochen.«
»Oh«, murmelte sie. »Erst vor zwei Wochen?«
Liam nickte.
»Tut mir leid. Ich hätte nicht davon anfangen sollen.«
»Macht nichts.« Er sah ihr an, dass etwas sie beschäftigte. »Was ist?«
»Ach, nichts.«
»Nun sag schon.«
»Ich habe mich nur gefragt, ob du deswegen einen anderen Namen angenommen hast«, begann Vivana zögernd. »Weil dein Vater gestorben ist, meine ich.«
Liam wusste, dass er nicht mit ihr über diese Dinge sprechen sollte. Aber er hatte diese ewige Geheimniskrämerei satt, und er war es leid, dass in beinahe jedem Gespräch unweigerlich der Moment kam, an dem er entweder schweigen oder lügen musste. Was war schon dabei, wenn er ihr ein wenig von seiner Vergangenheit erzählte? Schließlich hatte sie ihm versprochen, sein Geheimnis zu wahren. »Mein Vater wurde umgebracht«, sagte er. »Corvas hat ihn ermordet. Wenn er gewusst hätte, dass ich in der Stadt bin, hätte er mich festgenommen und eingesperrt. Ich musste untertauchen und einen anderen Namen annehmen, damit er mich nicht findet.«
Falls diese Enthüllung sie erschreckte, so zeigte sie es nicht. Liam studierte ihr Gesicht und gewann den Eindruck, als hätte sie so etwas erwartet.