»Aber du wohnst im Palast«, erwiderte sie. »Dort begegnest du Corvas jeden Tag.«
»Er weiß nicht, wer ich bin. Er glaubt, ich hätte die Stadt schon vor Wochen verlassen.«
»Wieso hast du nicht? Anderswo wärst du viel sicherer.«
»Ich habe meine Gründe«, antwortete er knapp.
»Warum erzählst du mir das alles? Ich meine, ich könnte ein Spitzel der Geheimpolizei sein oder so.«
Er grinste. »Bist du einer?«
»Klar. Ich bessere mein Taschengeld auf, indem ich Verschwörer ans Messer liefere. Im Ernst, Liam. Warum? Neulich abend warst du noch so misstrauisch, dass du mich am liebsten hättest schwören lassen, dass ich niemandem etwas verrate.«
»Ich weiß. Aber diese Heimlichtuerei ist auf Dauer ermüdend. Immer nur zu lügen und anderen etwas vorzumachen, das liegt mir einfach nicht.«
Vivana blickte ihn forschend an. »Danke für deine Offenheit. Ich weiß das zu schätzen, Liam... Hugnall.«
»Das macht dir Spaß, was?«
»Ein bisschen.« Sie lächelte verschmitzt.
»Also gut. In Wirklichkeit heiße ich Liam Satander. Aber am besten vergisst du das gleich wieder.«
»Zu Befehl, Herr Hugnall.«
Es dämmerte, und die Leute zündeten ihre Fackeln an. Liam stellte fest, dass sich der Platz in der Zwischenzeit gefüllt hatte. Offenbar hatten sich viele Menschen im letzten Moment entschlossen, doch den Phönixtag zu feiern, allen Widrigkeiten zum Trotz. Ein Reisighaufen flammte auf, ein zweiter, ein dritter, bis wenig später ein Dutzend Feuer den Platz in flackerndes Licht tauchten. Jemand stimmte ein Lied an. Es war ein altes Lied, das davon handelte, dass die Flamme des Phönix für immer über den Dächern von Bradost brennen und niemals erlöschen würde.
»Als ich ein Kind war«, sagte Vivana, »habe ich mir immer gewünscht, dass der Phönix aufwacht und über die Stadt fliegt. Es muss ein phantastischer Anblick gewesen sein.«
»Ich habe es einmal gesehen«, erwiderte Liam.
»Wie alt warst du da?«
»Vier oder fünf.«
»Das muss sein letzter Flug gewesen sein. Vater hat mir davon erzählt. Angeblich habe ich es auch gesehen, aber ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Ich weiß es noch genau. Es war abends. Plötzlich hat seine Flamme ganz hell gebrannt, so als wäre eine zweite Sonne aufgegangen. Er hat seine Flügel ausgebreitet und ist in einem Bogen von Scotia nach Norden geflogen, über die Altstadt und das Labyrinth, ohne auf die Luftschiffe Rücksicht zu nehmen. Eins hätte er sogar fast zum Absturz gebracht.«
Sie lachte. »Wirklich?«
»Ja. Es musste auf dem Fluss notlanden, glaube ich.«
»Was ist dann passiert?«
»Er ist ein paar Runden geflogen. Wahrscheinlich wollte er sich vergewissern, dass der Stadt keine Gefahr droht, so wie er es früher immer getan hat.«
Sie betrachtete die Turmspitze, als wäre der Phönix gerade eben dort gelandet. Orangefarbener Feuerschein lag auf ihrem Gesicht. »Schade, dass ich damals noch so klein war.«
»Glaubst du, er kommt eines Tages wieder?«, fragte Liam.
»Er ist ein Schattenwesen. Die Manusch sagen, wenn Schattenwesen einmal die Welt verlassen haben, bleiben sie für immer fort. Aber wer weiß, vielleicht hört er ja die Leute singen und überlegt es sich noch mal.«
Der Gesang endete abrupt, als wütende Rufe erklangen. Liam erblickte in ihrer Nähe einen Mann, der Steine nach den Krähen warf. Er war groß und bullig gebaut und trug eine Filzkappe, schwere Stiefel und ölverschmierte Kleider - vielleicht ein Arbeiter vom Luftschiffhafen oder ein Mechaniker aus dem Kessel. Mit hochrotem Gesicht holte er einen neuen Stein aus seinem Beutel und brüllte: »Hinterlistige Mistviecher! Hässliche Aasfresser!«
Der Stein prallte vom untersten Turmsims ab. Die Krähen krächzten angriffslustig.
»Hört auf, uns nachzuspionieren! Lasst uns endlich in Ruhe!«
Noch ein Stein flog durch die Luft.
Liam stand auf und schaute sich besorgt um. Die Stimmung auf dem Platz veränderte sich merklich. Sämtliche Gespräche waren verstummt. Die Leute reckten die Köpfe, um zu sehen, was vor sich ging. Die Gesichter der Soldaten verfinsterten sich.
»Corvas!«, schrie der Hüne. »Du verdammter Hurensohn! Komm her, damit ich dir in deinen bleichen Hintern treten kann. Und bring auch den Rest von deiner Bande mit, Umbra und Amander und deine verfluchten Spiegelmänner. Ich breche euch allen die Knochen!«
Ein Mann mit grauem Bart trat vor. »Hör auf damit«, redete er auf den Hünen ein. »Du bringst dich noch in Schwierigkeiten.«
»Lass mich!«, knurrte der Arbeiter mit glühendem Gesicht. »Diese Stadt stinkt!«, brüllte er der Menge entgegen. »Lady Sarka hat uns alle verraten und verkauft. Verraten und verkauft, hört ihr? Und wir Feiglinge lassen uns das gefallen. Nieder mit ihr!, sage ich. Holen wir uns zurück, was uns gehört!«
Voller Unbehagen beobachtete Liam die Soldaten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie eine derartige Ansprache gleichmütig hinnahmen. Prompt bildete die Menge eine Gasse, durch die ein Trupp Bewaffneter marschiert kam.
»Das sieht nicht gut aus«, raunte er Vivana zu. »Sollen wir gehen?«
»Warte. Vielleicht ist es halb so schlimm«, sagte sie, trotz der Furcht in ihren Augen.
Der Captain baute sich vor dem Hünen auf. »Gibt es hier ein Problem?«, schnarrte er.
»Allerdings«, erwiderte der Angesprochene herausfordernd. »Und was für eins. Du und deine Soldaten, ihr seid das Problem!«
»Ich warne dich, Freundchen. Für solches Gerede könnte ich dich festnehmen.«
»Das kannst du ja mal versuchen, du Winzling.«
»Na schön, du willst es nicht anders. Ich verhafte dich wegen aufrührerischer Reden und Hetze gegen die Lordkanzlerin. Ergreift ihn«, befahl der Captain seinen Männern.
»Lasst den armen Kerl in Ruhe«, mischte sich der Bärtige ein. »Seht ihr nicht, dass er betrunken ist?«
»Halt den Mund, oder wir nehmen dich auch mit!«, fuhr der Offizier ihn an... und wurde im nächsten Moment umgerissen, als sich der Hüne brüllend auf ihn stürzte.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Die Soldaten hieben mit ihren Lanzenschäften auf den Betrunkenen ein, der Bärtige rief: »Aufhören!«, woraufhin ihn zwei Bewaffnete wegziehen wollten. Als er sich wehrte, stießen sie ihn zu Boden. Aus der Menge kamen ihm mehrere Männer und Frauen zu Hilfe und griffen die Soldaten mit bloßen Händen an.
Liam fluchte. »Weg hier«, sagte er zu Vivana, und sie liefen los.
Was dann geschah, konnte er nicht mehr erkennen. Überall brach Geschrei los, Leute rangelten mit Soldaten, die verzweifelt versuchten, sich um ihren gestürzten Captain zu formieren.
Liam ergriff Vivanas Hand und versuchte, sich durch die Menge zu drängen. Es wurde gestoßen und geschoben, als Menschen vor dem Handgemenge fliehen wollten, während andere nach vorne stürzten, um in den Kampf einzugreifen. Frauen schrien und pressten ihre Kinder an sich.
Panisch hielt Liam nach einem Ausweg Ausschau, doch wohin er auch blickte, sah er nichts als wogende Leiber. »Da entlang«, rief Vivana und zog ihn zu einer Lücke, die sich plötzlich hinter ihnen auftat. So schnell es das Gedränge zuließ, liefen sie in Richtung Chimärenbrücke. Allerdings waren sie noch keine zehn Schritte weit gekommen, als irgendwo jemand brüllte: »Sie haben ihn umgebracht. Mörder! Mörder!«
Liam konnte förmlich spüren, wie sich binnen eines Augenblicks die aufgestaute Wut der Menschen auf die Willkür der Soldaten entlud. Gesichter verzerrten sich vor Zorn. Leute schwenkten Fackeln und schrien Flüche und Beleidigungen. Männer griffen nach brennenden Holzscheiten. Wo eben noch die Lücke gewesen war, herrschte nun ein noch schlimmeres Gedränge als vorher.
»Liam!«, rief Vivana. Ihre Hand entglitt seiner, als sie von der Flut der herandrängenden Körper mitgerissen wurde, und er musste mit ansehen, wie sie in der Menge verschwand.