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Er brüllte ihren Namen, während er sich einen Weg durch das Getümmel zu bahnen versuchte. Ein Ellbogen traf ihn im Gesicht, er wurde zurückgestoßen und wäre gestürzt, wenn er nicht mit jemandem zusammengeprallt wäre. Mit aller Kraft warf er sich nach vorne, rempelte Menschen zur Seite und sah für einen Moment ihr Haar in dem Chaos aufblitzen.

Eine Gestalt fuhr herum, schrie etwas, eine Fackel versengte seine Wange. Er versetzte dem Mann einen Stoß und bekam Vivanas Arm zu fassen. Sie versuchte, ihn abzuschütteln, bevor sie ihn erkannte und er sie zu sich ziehen konnte.

»Bist du in Ordnung?«

Sie nickte, bleich, aber unversehrt. Schützend presste Liam sie an sich, während sie sich durch die Menge schoben.

Plötzlich donnerten Pistolenschüsse, und die Leute liefen auseinander. Im Feuerschein sah er weitere Soldaten von der Chimärenbrücke kommen, begleitet von einem halben Dutzend Reiter, die in die Luft feuerten, bevor ein Hagel aus Holzscheiten und Pflastersteinen auf sie niederprasselte.

Liam konnte kaum noch etwas sehen. Als er sich das Gesicht abwischte, entdeckte er Blut auf seinem Ärmel. Er überließ Vivana die Führung, und Hand in Hand flohen sie vor den Soldaten, die in geschlossener Formation vorrückten. Die Menge hatte sich auf der anderen Seite des Platzes gesammelt, sodass sie ungehindert zu einer Gasse zwischen zwei Stadthäusern gelangen konnten. Sie hasteten durch das Halbdunkel und fanden sich kurz darauf am Flussufer wieder.

Liams Lunge brannte bei jedem Atemzug. Erschöpft sank er auf die gemauerte Böschung. Abermals wischte er das Blut weg, das ihm ins Auge rann.

»Warte, ich helfe dir«, sagte Vivana. Sie suchte ihre Hosentaschen nach einem Tuch ab. Als sie keines fand, fing sie an, ihren Ärmel zu zerreißen.

»Was machst du da?«

»Du hast eine ganz schöne Schramme.« Sie faltete einen Fetzen Stoff zusammen, den sie behutsam auf seine Augenbraue presste.

»Danke«, murmelte er.

»Halt es fest. Es sieht nicht schlimm aus. Es müsste gleich aufhören zu bluten.«

Sie setzte sich neben ihn. Das Geschrei der Menge und das Donnern der Pistolen klangen weit entfernt.

»Diese Bastarde«, sagte Vivana nach einer Weile. »Die Leute haben ihnen überhaupt nichts getan. Sie wollten nur in Ruhe den Phönixtag feiern.«

Es dauerte eine Weile, bis das Entsetzen von Liam abfiel. Das war nicht der erste Aufruhr, den er erlebt hatte, aber noch nie zuvor hatte er die Gewalt so unmittelbar erfahren.

»Was machen wir jetzt?«, fragte er schließlich. »Soll ich dich nach Hause bringen?«

»Lass uns lieber einen Arzt suchen, der sich deine Wunde ansieht.«

»Ich brauche keinen Arzt.«

»Bist du sicher?«

»Es hat schon aufgehört zu bluten.«

Vivana sah ihn an und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Danke, dass du mir geholfen hast.«

Er grinste schief. »Wer hat hier wem geholfen?«

»Hör auf, Liam. Ich saß da oben ziemlich in der Klemme. Wer weiß, was ohne dich passiert wäre.«

»Reiner Eigennutz. Ich hätte deinem Vater nur ungern erklären wollen, dass seine Tochter zertrampelt wurde.«

Sie musste lachen. »Ja, das hätte eurer Freundschaft wahrscheinlich nicht gut getan.« Sie schien in der kühlen Abendluft zu frösteln und schlang die Arme um den Oberkörper. »Eine Bitte: Sag ihm nicht, wo wir waren. Er macht sich auch so schon zu viele unnötige Sorgen um mich.«

»So schlimm?«

Sie verzog den Mund. »Ich sollte jetzt gehen. Besser, ich bin zu Hause, bevor er von der Werkstatt kommt.«

»Lass mich lieber mitkommen. In den Straßen wird es vor Soldaten nur so wimmeln.«

»Also gut«, murmelte sie.

Bewaffnete hatten die Chimärenbrücke abgeriegelt, weshalb sie am Ufer entlanggingen und den Fluss weiter östlich überquerten. Im Chymischen Weg und dem Kessel war von dem Aufruhr nichts zu spüren, und sie begegneten nur einer einzigen Patrouille, die sie jedoch in Ruhe ließ. Wenig später kamen sie zu Quindals Haus.

»Alles dunkel«, stellte Vivana erleichtert fest. »Er macht offenbar wieder Überstunden.« Sie schloss die Tür auf.

Liam blickte zum Phönixturm. Der Platz war weit entfernt, aber da Quindals Haus auf einem Hügel stand, konnte er ihn dennoch erkennen. Schatten bewegten sich im Feuerschein, hin und wieder trug der Wind fernes Geschrei und Schüsse herauf. Es sah nicht danach aus, als wäre der Aufruhr bald zu Ende. »Das war wohl der letzte Phönixtag«, sagte er.

»Meinst du?«

»Ich glaube nicht, dass Lady Sarka weitere öffentliche Versammlungen dulden wird. Nicht nach allem, was in letzter Zeit passiert ist.« Er wandte sich zu Vivana um. »Also dann...«

Sie lehnte am Türrahmen. »Normalerweise wäre das jetzt der Moment, sich für den schönen Abend zu bedanken, aber das einen schönen Abend zu nennen wäre etwas seltsam, oder?«

Er lachte. »Allerdings.«

Sie schwiegen. Liam wollte sich nicht einfach von ihr verabschieden, als wäre nichts gewesen, und er spürte, dass es ihr ebenso erging.

»Und du bist wirklich sicher, dass mit deinem Auge alles in Ordnung ist?«, fragte sie.

»Ich denke schon.«

»Lass es mich lieber noch einmal ansehen. Mein Vater hat irgendwo ein Mittel zum Desinfizieren.«

Er nickte. »Ich warte hier draußen.«

»Unsinn. Du kannst dich in den Salon setzen, während ich danach suche.«

Sie gingen hinein. Im Salon machte Vivana Licht. Ruac kroch unter der Anrichte hervor und zischte vorwurfsvoll.

»Ich weiß, der Herr hat Hunger«, sagte Vivana. »Aber du musst dich noch einen Moment gedulden.«

Liam nahm in einem Lehnstuhl Platz, während sie im Nebenraum verschwand. Zu seiner Überraschung kletterte Ruac auf seinen Schoß und machte es sich dort bequem.

»Seine Schuppen sind warm«, sagte er, als Vivana zurückkam.

»Mit der Temperatur seiner Schuppen drückt er seine Gefühle aus. Warm bedeutet, dass er dich mag.«

Allerdings ging Ruacs Zuneigung nicht so weit, dass er darüber seinen Hunger vergaß. Vivana hatte den Napf kaum auf den Boden gestellt, da sprang der Tatzelwurm schon von Liams Knien und machte sich über die Fleischbrocken her.

Vivana öffnete das Fläschchen mit der Tinktur. »Achtung, das brennt jetzt etwas.«

Liam zuckte zusammen, als sie die Schramme an seiner Augenbraue einrieb.

»So, jetzt kann sie sich wenigstens nicht mehr entzünden.« Sie ging zu einem der Regale und holte die Gaslampe heraus, die Quindal im Keller benutzt hatte.

»Was hast du vor?«

»Du willst doch nicht schon nach Hause, oder?«

Liam dachte gar nicht daran - er genoss das Zusammensein mit ihr viel zu sehr. »Sehe ich so aus?«, fragte er grinsend.

»Komm mit. Ich will dir etwas zeigen.«

Sie gingen zur Eingangshalle und von dort aus durch einen Flur, der zum Eckturm des Hauses führte. Während er Vivana die Treppe hinauffolgte, sah Liam im Schein ihrer Lampe, dass Staub auf den Stufen lag und die Wände in einem schlechten Zustand waren. Überall zeigten sich Risse und bröckelte der Putz herunter.

»Ihr benutzt diesen Flügel schon eine Weile nicht mehr, was?«

»Mein Vater lässt alles verkommen. Wenn ich nicht hin und wieder sauber machen und die schlimmsten Schäden ausbessern würde, wäre der Turm wahrscheinlich längst in sich zusammengefallen.«

Die Treppe endete an einer Tür, die so verzogen war, dass Vivana sie nur mit Mühe öffnen konnte. Dahinter lag das kleine Observatorium, das Liam von außen gesehen hatte.

Sie drehte die Lampe ab und stellte sie auf den Boden. Die unteren Segmente der Glaskuppel waren blind vor Staub und Spinnweben, aber die oberen boten einen ungetrübten Blick auf das nächtliche Firmament. Sternenlicht fiel auf das Teleskop, das in der Mitte des Raumes stand.

Vivana setzte sich auf das Messinggestänge der Apparatur und ließ die Beine baumeln. »Manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, komme ich hier herauf und sehe mir den Himmel an. Erwirkt so unfassbar weit, dass einem Bradost dagegen winzig erscheint. Irgendwie beruhigend, oder? Zu wissen, dass unsere Probleme im Grunde bedeutungslos sind.«