»Benutzt dein Vater das Observatorium noch?«, fragte Liam.
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat es für meine Mutter eingerichtet. Sie liebte die Sterne. Früher sind sie oft gemeinsam hier gewesen und haben die Sternbilder betrachtet, aber seit ihrem Tod hat er den Turm kaum noch betreten. Ich glaube, er erträgt die Erinnerungen an sie nicht.«
Liam setzte sich neben sie. Ihre Arme berührten sich, aber Vivana rückte nicht von ihm weg. »Woran ist sie gestorben?«
»Der Kummer hat ihr das Herz gebrochen.« Vivana streifte ihn mit einem Blick, dann schaute sie wieder zum Sternenhimmel auf. »Sie war eine Wahrsagerin wie Tante Livia. Mein Vater ist damit nicht zurechtgekommen - ich habe dir ja erzählt, was er von Magie hält. Es verging keine Woche, in der sie nicht deswegen stritten. Irgendwann hat er angefangen, alles abzulehnen, was mit den Manusch zu tun hat. Ihre Sprache, ihre Musik, ihre gesamte Lebensweise. Ich glaube, am liebsten hätte er meine Mutter verwandelt. In eine gewöhnliche Frau aus Bradost oder, noch besser, in eine Wissenschaftlerin, die genauso denkt wie er.«
»Warum hat sie ihn nicht verlassen?«
»Das hat sie versucht, aber sie konnte es nicht. Trotz allem liebte sie ihn. Irgendwann wurde sie schwermütig und hat immer weniger gegessen. Ein paar Monate später ist sie gestorben.«
Liam begann zu verstehen, warum die Manusch und Quindal einander ablehnten. »Hasst du ihn deswegen?«
»Ich hasse ihn nicht«, sagte sie, »auch wenn es vielleicht so aussieht. In gewisser Weise kann ich sogar verstehen, warum er sich so verhalten hat. Die Welt der Manusch macht ihm Angst. Er fürchtete, meine Mutter daran zu verlieren.«
Liam musterte sie. Ein Mädchen wie Vivana hatte er noch nie getroffen. Sie war so anders als die Mädchen von Scotia, mit denen er aufgewachsen war, nachdenklicher und irgendwie... erwachsener. Vielleicht war das der Grund, warum er das Gefühl hatte, sie schon ewig zu kennen, obwohl sie sich erst vor wenigen Tagen begegnet waren.
Sie bemerkte seinen Blick. »Du bist der Erste, dem ich diese Dinge erzähle. Merkwürdig, oder?«
Er lächelte. »Ein bisschen.«
»Na ja, du warst offen zu mir. Da ist es nur fair, dass ich auch offen zu dir bin.« Sie wippte mit den Beinen und begann, auf ihrer Unterlippe zu kauen. Als sie weitersprach, lag leichte Anspannung in ihrer Stimme. »Wie ist es, Liam, verträgst du heute Abend noch ein bisschen mehr Ehrlichkeit?«
»Wie meinst du das?«
»Ich fürchte, ich muss dir etwas gestehen. Etwas, das dir nicht gefallen wird.«
»Du bist doch von der Geheimpolizei?«
Sie verpasste ihm einen Stoß mit dem Ellbogen. »Mach keine Witze. Ich meine es ernst.«
»Nur zu. So schlimm wird es schon nicht werden.«
Ihr Blick sagte etwas anderes. »Als du neulich bei meinem Vater gewesen bist, habe ich euch heimlich zugehört.«
»Wann? Während wir im Keller waren?«
»Ja.«
»Aber dein Vater hat gesagt, dort wäre es sicher.«
»An meinem Zimmer führt einer der Lichtschächte vorbei. Ich habe vor Jahren ein Loch in die Wand gemacht. Mein Vater weiß nichts davon.«
»Und durch das Loch hast du uns belauscht?«
Sie nickte.
»Das ist... nicht gut«, sagte er überrumpelt.
»Du bist jetzt sauer, oder?«, fragte sie.
Liam war sicher, dass, hätte ihm jemand anderes dieses Geständnis gemacht, er nicht nur ärgerlich, sondern fuchsteufelswild geworden wäre. Auf Vivana jedoch konnte er nicht wütend sein. Nicht nach allem, was heute Abend passiert war. »Hast du jemandem davon erzählt?«
»Nein... das heißt, doch. Tante Livia. Aber dich habe ich nicht erwähnt. Ich habe sie nur gefragt, was es mit diesem Gelben Buch auf sich hat, von dem ihr geredet habt.«
»Mehr hast du ihr nicht gesagt?«
»Wirklich nicht. Hör zu, Liam, es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun sollen. Aber da war dieser Streit mit meinem Vater. Außerdem habe ich seine ewige Heimlichtuerei nicht mehr ertragen.« Sie schwieg unglücklich.
Plötzlich konnte Liam nicht anders, als leise zu kichern.
»Warum lachst du denn?«
»Ich muss mir nur gerade deinen Vater vorstellen. Er würde toben, wenn er das wüsste.«
»Allerdings«, murmelte sie. »Vor allem, wenn er herausbekäme, was ich noch alles belauscht habe.«
»Das war nicht das erste Mal?«
»Natürlich nicht. Ich weiß so ziemlich alles, was er seit Jahren vor mir zu verbergen versucht.«
Liam vermutete, dass sie damit die Verschwörung meinte, in die ihr Vater verwickelt gewesen war. Ja, Quindal würde toben. »Und der arme Kerl ahnt nicht das Geringste. Man könnte fast Mitleid mit ihm haben.«
»Heißt das, du bist nicht wütend?«
»Würde das etwas ändern?«
Er konnte hören, wie sie aufatmete. »Danke«, sagte sie leise. »Ich habe schon befürchtet, du würdest davonlaufen und mich nie wieder sehen wollen, wenn ich dir das erzähle.«
»Warum hast du es mir dann erzählt?«
»Weil... Ach, einfach so. Weil es nicht richtig ist, jemanden zu hintergehen.«
Sie wich seinem Blick aus, und er konnte spüren, dass sie noch mehr sagen wollte, viel mehr. Aber dann war der Moment vorüber, und in der Stille, die folgte, hörte er nichts als das Klopfen seines Herzens.
»Los, sag etwas«, forderte sie ihn auf, als sie das Schweigen nicht mehr ertrug.
Liam musste zuerst seine Gedanken sortieren. Die Heftigkeit, mit der er sich plötzlich zu ihr hingezogen fühlte, verwirrte ihn zutiefst. »Die Dinge, die dein Vater und ich beredet haben«, begann er schließlich, »was davon hast du gehört?«
»Alles«, antwortete sie. »Ich weiß, dass du kein Gärtner bist. Das ist nur deine Tarnung. In Wahrheit suchst du ein Buch. Das Gelbe Buch von Yaro D’ar. Lady Sarka bewahrt es in ihren Gemächern auf, aber wegen der Spiegelmänner kommst du nicht hinein.«
»Weißt du auch, warum ich das Buch suche?«
Sie schüttelte den Kopf.
Liam beschloss, ihr den Rest seiner Geschichte zu erzählen. Während der letzten Minuten war ihm klar geworden, dass Vivana der einzige Mensch war, dem er wirklich vertraute, so merkwürdig ihm das auch erschien. »Mein Vater war Blitzhändler in Scotia. Wir wohnten in der Sternwarte auf dem Hügel am Fluss. Er hat Lady Sarka gehasst und wollte dafür kämpfen, dass Bradost wieder eine Republik wird, so wie früher. Dafür wollte er den Phönix zurückholen.«
»Den Phönix? Wie wollte er das machen?«
»Ich weiß es nicht. Er hat Nachforschungen angestellt. Welche, kann ich dir nicht sagen; er war sehr verschlossen. Eines Tages ist er auf das Gelbe Buch von Yaro D’ar gestoßen, doch bevor er es finden konnte, ist ihm Corvas auf die Schliche gekommen. Die Spiegelmänner wollten ihn verhaften, und als er sich wehrte, haben sie ihn getötet.«
»Aber du konntest fliehen«, sagte Vivana.
Liam nickte. »Kurz vorher hat er mich gebeten, das Buch aufzuspüren. Es gibt nur ein Exemplar - es ist im Palast versteckt. Er wollte, dass ich deinen Vater um Hilfe bitte, also bin ich zur Werkstatt gegangen und habe mit ihm geredet. Zuerst wollte dein Vater von der ganzen Sache nichts hören, aber dann hat er sich bereit erklärt, mir zu helfen. Er hat mich der Lady vorgestellt und sie überredet, mir Arbeit zu geben. So wurde ich Gärtner in ihrem Palast.«
Vivana dachte lange über seine Worte nach. »Was erhoffst du dir davon?«, fragte sie schließlich. »Ich meine, was du tust, ist gefährlich. Es ist sogar reiner Wahnsinn. Ein Fehler, und es ergeht dir wie deinem Vater.«
»Das ist mir klar«, sagte er. »Aber ich habe keine Wahl. Ich muss erfahren, was so wichtig an diesem Buch ist, dass er bereit war, dafür zu sterben.«