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Ein Albtraum von der schlimmsten Sorte. Lucien hatte mit so etwas gerechnet. Offenbar wollte Aziel rasch eine Entscheidung herbeiführen.

Der Albtraum stürzte sich auf den Harlekin, packte ihn am Hals und hob ihn hoch, als wäre er nicht schwerer als eine Puppe. Der Harlekin setzte sich zur Wehr, indem er einen eigenen Traum erschuf, allerdings brachte er nur ein krötenähnliches Geschöpf zustande, das ein speicheltriefendes Maul besaß und nicht größer als ein Hund war.

Aziels Albtraum fuhr herum und erblickte das Wesen. Der Harlekin nutzte die Gelegenheit und befreite sich. Er stürzte zu Boden und brachte sich kriechend in Sicherheit, während der schwarze Nachtmahr das Krötenwesen mit einem einzigen Tritt zerstampfte.

Weitere Traumblasen umgaben Aziel, wuchsen in die Höhe und wurden zu Albträumen, einer schrecklicher als der andere. Lucien erblickte eine riesige Spinne mit einer menschlichen Fratze auf dem Rücken. Das Geschöpf daneben besaß elefantenähnliche Beine und einen Rachen voller Tentakel. Ein drittes bestand ganz aus Dunkelheit, die unablässig die Form veränderte: Mal waren gewaltige Schwingen zu erkennen, mal Krallen, dann wieder ein Kopf mit einem glühenden Schlund.

Der Harlekin kämpfte unterdessen um sein Leben. Der dornenbewehrte Nachtmahr versetzte ihm einen Schlag, der ihn quer durch die Halle schleuderte. Er prallte gegen eine Wand und blieb ächzend liegen. Bevor der Albtraum ihn abermals packen konnte, streckte der Harlekin den Arm aus, woraufhin sich der Traum in eine formlose Blase zurückverwandelte und in seiner Handfläche verschwand.

Diesen Gegner hatte der Harlekin bezwungen, aber Lucien sah ihm an, wie viel Kraft es ihn gekostet hatte. Mit Aziels anderen Träumen würde er nicht so leicht fertig werden.

Genau wie damals. Warum wollte er kämpfen, wenn er Aziel nicht gewachsen ist? Es ergibt keinen Sinn...

Aziels Albtraumhorde begann, den Harlekin einzukreisen. Um sie aufzuhalten, erschuf er mehrere Träume. Schillernde Blasen dehnten sich aus, doch jede einzelne wurde von den heranrückenden Nachtmahren zerstampft und verschlungen, bevor sie ihre endgültige Form annehmen konnte.

»Gib endlich auf!«, brüllte Aziel.

»Nein«, sagte der Harlekin schwach.

»Das ist Irrsinn. Du verlierst wieder.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher.«

Mit letzter Kraft richtete sich der Harlekin auf. Die Nachtmahre warteten auf Aziels Befehl, doch der Herrscher der Alben zögerte. Die Selbstsicherheit seines Rivalen im Angesicht der unabwendbaren Niederlage beunruhigte ihn offenbar.

»Wenn du aufgibst, lasse ich dich gehen«, sagte er. »Kein Gefängnis mehr. Du wärst frei.«

Trotz seiner Schmerzen brachte der Harlekin ein schiefes Grinsen zustande. »Wieso auf einmal so vorsichtig? Hast du Angst?«

»Sei kein Narr. So eine Chance bekommst du nicht noch einmal.«

»Lass gut sein. Ich verlasse diesen Palast entweder als König oder gar nicht.«

Daraufhin flüsterte Aziel einen Befehl, und die Albträume griffen an.

Der Harlekin versuchte nicht zu fliehen. Er erschuf keine neuen Träume, er blieb einfach stehen. Aus einer Falte seines Gewands zog er einen kleinen Gegenstand: einen länglichen Kristall, eingefasst in einen Kegel aus feinem Kupferdraht.

Nacktes Entsetzen packte Lucien, als er begriff, was der Harlekin in der Hand hielt. »Passt auf!«, schrie er. »Er hat Jernigans Lampe...«

Die Warnung kam zu spät. Der Harlekin schirmte sein Gesicht ab, und gleißende Strahlen schossen aus seiner geballten Faust hervor.

Bevor Lucien sich hinter die Brüstung warf, sah er noch, wie das Licht die Träume zerfetzte, er hörte Aziel und viele anderen Alben schreien, dann wurde die Welt weiß.

Wie lange er auf dem Boden gelegen hatte, konnte er nicht sagen. Als er sich benommen aufrappelte, war das gleißende Licht verschwunden - und mit ihm jede Spur der Träume. Blitze tanzten vor seinen Augen. Auf den Galerien lagen die anderen Alben, als hätte eine Sturmböe sie weggefegt. Die schwächeren waren bewusstlos und würden Tage brauchen, um sich zu erholen.

Jernigans Lampe, dachte Lucien. Licht, das keinen Schatten wirft. Er muss den Verstand verloren haben...

Aziel hatte es am schlimmsten getroffen - als die Lampe aufgeflammt war, hatte er genau hineingesehen. Er lag auf dem Boden der Halle und war bei Bewusstsein, aber selbst die kleinste Bewegung schien ihm Schmerzen zu bereiten.

Der Harlekin kroch auf ihn zu. Auch ihn hatte das Licht geschwächt, doch bei Weitem nicht so sehr wie seinen Rivalen. Dass er darauf vorbereitet gewesen war, hatte ihn vor dem Schlimmsten bewahrt.

»Wie kannst du es wagen... diese Lampe... herzubringen?«, ächzte Aziel. »Das ist... Frevel.«

»Frevel?« Der Harlekin lachte schwach. »Jetzt sei kein schlechter Verlierer.«

»Ich habe... nicht... verloren. Du hast... betrogen.«

»O nein, mein Freund. Du kennst die Regeln. Ich habe gegen keine einzige verstoßen.«

»Es war... ein schmutziger... Trick.«

»Tricks sind nicht verboten.«

Schwankend stand der Harlekin auf. Seine Hand, mit der er die Lampe gehalten hatte, war eine einzige Brandwunde. Mit dem Fuß drehte er Aziel auf den Rücken. »Ergibst du dich?«

»Niemals.«

»Dann steh auf. Kämpfe gegen mich.«

Aziel versuchte, sich zu erheben, doch es gelang ihm nicht einmal, sich aufzusetzen. Er blieb liegen und atmete schwer.

»Komm schon, Aziel. Wo ist dein Kampfgeist?«

Lucien blickte sich auf den Galerien um. Die meisten Alben hatten sich inzwischen erholt und verfolgten das Geschehen mit höchster Aufmerksamkeit. Mit dem Einsatz der Lampe mochte der Harlekin manche seiner Anhänger gegen sich aufgebracht haben, dafür gewann er dank Aziels Hilflosigkeit gerade neue hinzu. Denn wenn die Alben bei einem Herrscher eines nicht duldeten, dann Schwäche.

Aziel unternahm einen weiteren Versuch, sich aufzurichten. Diesmal schaffte er es, auf die Füße zu gelangen.

»Wieso rufst du nicht deine Nachtmahre?«, höhnte der Harlekin.

Aziels Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Eine Traumblase bildete sich in seiner Hand. Sie verschwand, noch bevor er ihr Form geben konnte.

»Ist das alles?«

Der Harlekin erschuf zwei Träume. Sie wirkten klumpig, grau und unfertig, ihnen fehlten Gesichter, Augen und Finger, denn für derartige Einzelheiten reichten seine Kräfte nicht mehr aus. Allerdings besaßen sie genug Substanz, um Aziel zu packen und zu Boden zu werfen. Als sie ihre teigigen Arme ein weiteres Mal nach ihm ausstreckten, hob er abwehrend die Hand.

Die Träume hielten inne. Aziels Lippen bewegten sich, als er seinem Gegner etwas zuflüsterte.

»Sag es so laut, dass jeder es hört«, befahl der Harlekin herrisch.

Scham und Qual rangen in Aziels Gesicht miteinander. Seine Stimme war so leise, dass sie kaum zu den Galerien drang. Dennoch verstand Lucien genau, was er sagte: »Ich gebe... auf.«

Es gab keinen Jubel, kein Freudengeschrei, doch die Euphorie, die von der Menge Besitz ergriff, war mit Händen zu greifen. Tausendfaches Flüstern erfüllte den Saal, dann strömten die Alben zu den Treppen. Kurz darauf umringten sie den Harlekin und erwiesen ihrem neuen Herrscher die Ehre.

Lucien blieb allein auf der Galerie zurück. Er entdeckte Aziel, der sich in eine Ecke der Halle zurückgezogen hatte, wo er mit schmerzverzerrtem Gesicht kauerte, schwach, gedemütigt, von niemandem beachtet. Lucien empfand keine Häme für den gefallenen König, obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte.

Er seufzte und stieg die Treppen hinab. Irgendwer musste sich schließlich um den alten Kauz kümmern.