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»Du kannst mir nicht entkommen«, sagte er. »Dies ist mein Reich. Nur ich entscheide, was hier geschieht.«

Jackon machte kehrt und lief zurück in das Labyrinth aus Treppen und Gängen. Er hastete die Stufen hinauf, in der verzweifelten Hoffnung, einen Winkel zu entdecken, wo Aziel ihn nicht fand.

Er konnte den Palast nicht verlassen. Er hatte keine Kraft mehr für einen Sprung.

Er lehnte sich gegen die Wand, keuchend vor Erschöpfung, obwohl er sich hundertmal sagte, dass er nicht erschöpft sein konnte, weil dies gar nicht sein Körper war, sondern nur dessen Seelenabbild. Er versuchte, ruhig zu atmen und seine verbliebenen Kräfte darauf zu konzentrieren aufzuwachen. Dies war seine einzige Chance, von hier zu entkommen.

Aziel erschien vor ihm, streckte die mächtigen Hände nach ihm aus, wollte ihn packen.

Jackon erwachte mit einem Schrei.

Er fuhr von der Couch auf und blickte sich gehetzt um. Der Palast war verschwunden. Er befand sich im geheimen Zimmer - in Sicherheit.

»Was ist geschehen?«, fragte Lady Sarka behutsam. »Bist du in einen Albtraum geraten?«

»Ich habe Aziel gesehen«, brachte er leise hervor.

Sie blickte ihn alarmiert an. »Hat er dich gefunden?«

»Nein. Ich... ich war in seinem Palast.«

Lady Sarka stand ruckartig auf. »Ich habe dir doch gesagt, dass du dich davon fernhalten sollst!«

»Es war ein Versehen«, stammelte er. »Ich wollte das nicht. Es ist... einfach passiert.«

»Du Narr! Damit hast du uns beide in Gefahr gebracht!«

Eingeschüchtert versank Jackon in der Couch. Er hatte die Lady noch nie so zornig erlebt.

»Hat er dich auch gesehen?«, fragte sie barsch.

»Leider ja.«

»Was hat er getan? Dich angesprochen?«

»Er wollte meinen Namen wissen.«

»Hast du ihm geantwortet?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin geflohen.«

Sie begann, unruhig im Zimmer umherzugehen. »Das ist schlecht. Sehr schlecht. Jetzt wird er nach dir suchen.«

»Und was passiert, wenn er mich findet?«

»Er wird dich töten.«

Jackon schluckte. »Wirklich?«

»Er duldet keine Traumwanderer. Er weiß, dass du eine Gefahr für ihn bist.«

»Aber ich habe doch gar nicht vor, ihm etwas...«

»Halt den Mund!«, fuhr sie ihn an. »Lass mich nachdenken.«

Sie öffnete eine kleine Zedernholzkiste und holte eine Phiole aus Rauchglas heraus. »Trink das«, befahl sie. »Aber nur einen kleinen Schluck.«

Jackon entfernte den Pfropfen und roch an der Öffnung. Die Flüssigkeit darin verströmte einen schweren, süßlichen Duft. »Was ist das?«

»Ein Mittel, das dich für ein paar Tage traumlos schlafen lässt. Vielleicht verliert er dann deine Spur. Jetzt trink schon.«

Verunsichert gehorchte er. Der Trank schmeckte genauso, wie er roch. Ölig rann die Flüssigkeit seine Kehle hinab.

»Ich fürchte, das wird nicht ausreichen«, fuhr Lady Sarka fort. »Aziel kann unsere Welt betreten. Er wird auch hier nach dir suchen. Du brauchst noch einen anderen Schutz.« Sie streifte ihre Halskette über den Kopf und reichte sie ihm. An dem dünnen Silberband hing ein fünfzackiger Stern, umgeben von einem Kreis. »Das ist ein Drudenfuß. Aziel fürchtet ihn. Solange du ihn trägst, kann er dir nichts anhaben. Leg die Kette deshalb niemals ab, auch nachts nicht. Besonders nachts nicht.«

Mit zitternden Händen zog Jackon die Kette an und schob den Drudenfuß unter sein Hemd. Das Silber lag kühl auf seiner Haut.

»Aber was ist mit meiner Ausbildung?«, fragte er nach einer Weile. »Wenn ich nicht träume, kann ich sie nicht fortsetzen.«

Lady Sarka bedachte ihn mit einem lodernden Blick. »Vergiss deine Ausbildung«, sagte sie. »Von nun an wirst du nur noch eines tun.«

»Was?«

»Versuchen, um jeden Preis zu überleben.«

29

Vivanas Plan

Wolken türmten sich im Norden auf und zogen brodelnd über Bradost. Manchmal brach die Sonne durch, woraufhin sich drückende Hitze breitmachte; dann wieder war die Wolkendecke so undurchlässig, dass in den Straßen ein schwefliges Zwielicht herrschte. Ein seltsamer warmer Wind pfiff um die Kamine, trieb Staub und Unrat vor sich her und machte die Menschen gereizt und übellaunig. Es war ein verrücktes Wetter, passend zur nervösen Stimmung in der Stadt.

Vivana hatte die allgegenwärtige Anspannung gespürt, kaum dass sie das Haus verlassen hatte. Während sie am frühen Abend mit Liam durch die Altstadt ging, sah sie überall die Auswirkungen des jüngsten Aufruhrs. Die Zeitungen wetteiferten darum, wer die schrillsten Lügen über die Ereignisse auf dem Phönixplatz verkündete. Soldaten patrouillierten durch die Gassen, mehr noch als an den Tagen nach dem Anschlag. Plakate wiesen auf die Ausgangssperre hin, die die Geheimpolizei auf Anordnung der Lordkanzlerin verhängt hatte: Wer sich nach Einbruch der Dunkelheit draußen herumtrieb, musste damit rechnen, verhaftet zu werden. Und genau wie Liam vorhergesagt hatte, waren öffentliche Versammlungen auf unbestimmte Zeit verboten.

Nicht einmal das Labyrinth, wo man normalerweise alles dafür tat, um die Sorgen der Welt zu vergessen, blieb von alldem verschont. Auch hier wimmelte es von Soldaten. Viele Tavernen, Varietés und Schaubuden hatten geschlossen. Die Menschen auf den Straßen blickten sich furchtsam um und sahen zu, dass sie auf dem schnellsten Weg nach Hause kamen. Die wenigen Gaukler und Musiker, die weiterhin ihre Kunst darboten, wirkten verzweifelt in ihrer Ausgelassenheit, so als wüssten sie, dass selbst das fröhlichste Lied, der albernste Taschenspielertrick niemanden darüber hinwegtäuschen konnte, was gerade in Bradost geschah.

Vivana und Liam mieden die Hauptstraßen, um möglichst wenigen Patrouillen zu begegnen. Damit sie vor der Ausgangssperre wieder zu Hause waren, beeilten sie sich, aber nicht übermäßig, denn sie wollten nicht auffallen.

»Hast du deinem Vater gesagt, wohin wir gehen?«, erkundigte sich Liam, während sie einen der zahlreichen Wasserkanäle überquerten.

»Warum fragst du?«

»Eigentlich habe ich ihm versprochen, dich nicht in diese Sache hineinzuziehen.«

»Du hast mich nirgendwo hineingezogen«, sagte Vivana. »Es war meine Entscheidung.«

»Er wird das anders sehen.«

Sie seufzte. In seinem Bemühen, sie zu beschützen, behandelte ihr Vater sie wie ein kleines Kind. »Er weiß nicht, dass wir uns treffen. Er war noch in der Werkstatt, als ich gegangen bin, und vermutlich kommt er erst spät in der Nacht zurück.«

»Trotz der Ausgangssperre?«

»Glaubst du, darum schert er sich? Er, der berühmteste Erfinder der Welt?«

Am Ende der Gasse kam der Platz der Erztugenden mit dem Wanderzirkus in Sicht. Vivana blieb stehen. »Warte hier. Es ist besser, wenn ich allein mit Livia spreche.«

Er nickte. »Und du glaubst wirklich, sie kann uns helfen?«

»Vertrau mir«, erwiderte sie, obwohl sie alles andere als sicher war. Sie musste ihre Tante um ein altes Geheimnis der Manusch bitten und konnte nicht sagen, wie Livia darauf reagieren würde. Es war nicht ausgeschlossen, dass sie Vivanas Bitte zurückweisen oder sogar ärgerlich werden würde.

Kurz darauf überquerte sie den Platz. Ihre Familie saß unter dem Sonnensegel und aß zu Abend. Die Stimmung unter den Manusch war schlecht, denn wegen der Situation in der Stadt kamen kaum noch Besucher zu ihren Vorstellungen. Vivanas Onkel sprach sogar davon, Bradost zu verlassen und weiterzuziehen, wenn sich die Lage nicht in den nächsten Tagen besserte.

Ihre Verwandten forderten sie auf, sich zu ihnen zu setzen, und boten ihr Brot, Oliven und Käse an. Aus Höflichkeit aß Vivana einige Bissen, bevor sie ihre Tante fragte, ob sie unter vier Augen mit ihr sprechen könne.