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»Hast du wieder Streit mit deinem Vater?«, erkundigte sich Livia, nachdem sie sich in ihren Wagen zurückgezogen hatten.

»Ich muss dich um etwas bitten«, begann Vivana. »Es wird dir nicht gefallen, aber es ist wirklich ungeheuer wichtig, denn es hängt viel davon ab, mehr als du dir vorstellen kannst. Also sag bitte nicht gleich Nein.«

»Wieso verrätst du mir nicht erst einmal, worum es überhaupt geht?«

Vivana holte tief Luft. »Ich brauche javva

Ihre Tante war so verblüfft, dass es ihr für einen Moment die Sprache verschlug. »Weswegen?«

»Eigentlich brauche nicht ich es, sondern Liam. Du weißt schon, der Junge, der mich neulich besucht hat.«

»Was ist mit ihm? Ist er verletzt?«

»Nein. Er braucht es wegen der... anderen Wirkung.«

»Hat er etwa Ärger mit der Geheimpolizei?«

»Ja... in gewisser Weise.«

»In gewisser Weise?«, wiederholte Livia. »Könntest du dich etwas deutlicher ausdrücken?«

»Er sucht etwas. Etwas, das ihm sehr viel bedeutet und das von Spiegelmännern bewacht wird.«

»Das ist nicht gerade eine zufriedenstellende Erklärung, Vivana.«

»Mehr kann ich dir aber nicht sagen. Ich habe Liam mein Wort gegeben.«

Livia zog einen Schemel unter dem Tisch hervor, raffte ihre Röcke und setzte sich. »Ich soll ihm also eines unserer wichtigsten Geheimnisse überlassen, ohne dass ich erfahren darf, was er damit vorhat?«

»Du erfährst es. Wenn Liam nicht mehr in Gefahr ist. Ich verspreche es dir.«

»Weißt du, was du da von mir verlangst? Es hat einen Grund, dass wir unser Wissen vor Fremden hüten. Wenn Lady Sarka erfährt, dass wir etwas besitzen, das uns vor den Spiegelmännern schützt, sind wir hier nicht mehr sicher. Außerdem ist javva selten und kostbar. Wir benutzen es nur in Notfällen.«

Das Gespräch verlief nicht so, wie Vivana es sich erhofft hatte. »Bitte, Tante Livia«, sagte sie. »Du bist die Einzige, die Liam helfen kann.«

Die Wahrsagerin seufzte. »Setz dich.«

Nachdem Vivana an dem kleinen Tisch Platz genommen hatte, fragte Livia: »Was ist das überhaupt für ein Junge?«

»Er ist mein Freund.«

»Du hast ihn doch gerade erst kennengelernt, oder?«

»Was hat das damit zu tun?«

»Eine Menge. Er muss dir viel bedeuten, dass du mit so einer Bitte zu mir kommst.«

Vivana wusste nicht, wie sie ihrer Tante erklären sollte, was sie für Liam empfand. Sie verstand ihre Gefühle selbst kaum. Liam und sie hatten einander ihre Geheimnisse anvertraut, während das Sternenlicht durch die Kuppel des kleinen Observatoriums schien, obwohl sie ihn erst wenige Tage kannte. Die vergangene Nacht hatte eine Verbindung zwischen ihnen geschaffen, ein Vertrauen, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Und nicht nur das... Sie war mit dem Gedanken an Liam eingeschlafen und heute Morgen damit aufgewacht, und sie hatte es gar nicht abwarten können, ihn wiederzusehen. Ein überaus verwirrender Zustand. Schön. Und gleichzeitig ein bisschen beängstigend.

Livia musterte sie lange, bevor sie sagte: »Du magst ihn sehr, nicht wahr?«

»Ich will einfach nicht, dass ihm etwas zustößt.«

»Du brauchst dich für deine Gefühle nicht zu schämen. Ich war auch einmal sechzehn - glaub mir, ich weiß, wie du empfindest.«

Es gefiel Vivana ganz und gar nicht, was ihre Tante da sagte. Konnte ihr etwa jeder ansehen, was in ihr vorging? Sie zog die Nase kraus. »Sag mir lieber, ob du Liam helfen wirst.«

»Ich kann ihm kein javva geben. Es wäre zu gefährlich. Versteh das bitte.«

»Aber er würde es niemandem verraten! Du kannst ihm vertrauen.«

»Wie, wenn ich nichts über ihn und seine Absichten weiß? Herrgott, Vivana, ich kenne diesen Jungen nicht einmal.«

»Du hast doch mit ihm geredet.«

»Ein einziges Mal. Und nicht gerade lange.«

Vivana schwieg entmutigt. Dass es so schwer werden würde, hätte sie nicht gedacht. Dabei war sie davon überzeugt, dass ihre Tante Liam bereitwillig helfen würde, wenn sie seine Geschichte hörte. Aber Vivana hatte ihm nun einmal versprochen, nur so viel von seinen Plänen preiszugeben wie unbedingt nötig. »Und wenn er dir sagen würde, was er vorhat? Würdest du es dir dann nochmal überlegen?«

»Heißt das, er ist hier?«

»Er wartet eine Straße weiter auf mich. Ich hole ihn, wenn du einverstanden bist.«

Livia seufzte erneut, tiefer diesmal. »Und wer garantiert mir, dass er nicht lügt? Oder mir etwas verschweigt?«

»Weil Liam das nicht tun würde.«

»Das kannst du nicht wissen. Nein, Vivana. Bei solch einem bedeutenden Geheimnis kann ich kein Risiko eingehen. Es tut mir leid.«

Vivana gab auf. Sie kannte ihre Tante. Wenn die Wahrsagerin einmal eine Entscheidung getroffen hatte, konnte nichts und niemand sie umstimmen.

»Nein, mir tut es leid«, erwiderte sie resigniert. »Das war eine dumme Idee. Mach’s gut.«

»Du willst schon gehen?«

»Was soll ich noch hier, wenn du mir nicht helfen willst?«

»Warte«, sagte die Manusch, als Vivana die Wagentür öffnen wollte. »Bedeutet dir das wirklich so viel?«

»Ja.«

Livia blickte sie schweigend an. »Mit Liam zu reden genügt nicht«, sagte sie schließlich. »Aber vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit.«

»Welche?«

»Ich könnte ihn prüfen.«

»Ihn prüfen?«

»Ja. Um herauszufinden, ob er vertrauenswürdig ist. Allerdings ist dieses... Verfahren nicht unbedingt angenehm.«

»Was meinst du damit?«

»Das wirst du sehen«, erwiderte die Wahrsagerin. »Denkst du, er wäre damit einverstanden?«

»Ich rede mit ihm. Bin gleich wieder da.«

Während sie aus dem Wagen stieg, fragte sich Vivana, was ihre Tante wohl vorhatte. Doch sie war zu erleichtert, dass sie Liam eine Chance geben wollte, um auf einer genaueren Auskunft zu bestehen.

Sie eilte über den Platz zur Gasse, wo ihr Liam entgegenkam. Der Wind pflügte durch sein blondes Haar. Als sie ihn sah, spielte irgendetwas in ihr für einen Augenblick verrückt, allerdings auf eine seltsam glückliche Art. So ging es ihr schon den ganzen Tag. Sie hoffte wirklich, dass er sie nicht so leicht durchschaute wie ihre Tante.

»Und, was hat sie gesagt?«, fragte er.

»Sie will mit dir reden, bevor sie entscheidet, ob sie uns hilft.«

»Hält sie mich etwa immer noch für einen Spion deines Vaters?«

»Es ist noch vertrackter, fürchte ich. Sie will dich prüfen.«

»Wie?«

»Das hat sie nicht gesagt. Aber wenn du ihr Vertrauen gewinnen willst, wirst du dich wohl darauf einlassen müssen.« Zögernd fügte Vivana hinzu: »Ich habe ihr außerdem vorgeschlagen, dass du ihr deine Geschichte erzählst. Wer du wirklich bist und was du vorhast.«

»Du weißt doch, dass ich das nicht kann«, erwiderte er mit einem Anflug von Ärger. »Es ist zu riskant.«

»Du hast von meiner Tante nichts zu befürchten. Sie ist verschwiegen. Und sie hasst Lady Sarka und Corvas genauso sehr wie du.«

Liam wirkte nicht überzeugt.

Vivana musste sich bemühen, nicht die Geduld zu verlieren. Wie konnte es sein, dass zwei vernünftige, kluge und ehrliche Menschen wie Liam und ihre Tante einander so viel Misstrauen entgegenbrachten? »Die Manusch haben viele Feinde«, erklärte sie. »Tante Livia versucht nur, ihre Familie und ihr Volk vor Schaden zu bewahren. Kannst du das nicht verstehen?«

»Ich habe auch Feinde.«

»Sicher. Aber meine Tante gehört nicht dazu.«

»Wenn ich wenigstens wüsste, ob dieses ominöse Manuschmittel den ganzen Aufwand wert ist«, meinte Liam.

»Ist es. Glaub mir.«

Sie konnte ihm ansehen, wie er mit sich rang. »Also gut«, sagte er schließlich. »Ich rede mit ihr und lasse mich prüfen... Was auch immer das heißt.«