Vivana atmete innerlich auf. »Komm mit«, sagte sie und griff unwillkürlich nach seiner Hand, als sie losging.
Liam hatte noch nie einen Manuschwagen von innen gesehen. Neugierig blickte er sich um, nachdem er Vivana durch die bemalte Tür gefolgt war, betrachtete die Zedernholztruhen, die Kräuterschnüre an der Decke, die alten Bücher auf dem Regalbrett. Ein kaum merklicher Duft lag in der Luft, würzig und exotisch. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie fremd ihm die Welt der Manusch war. Worauf hatte er sich nur eingelassen?
Vivanas Tante saß an einem Tisch, auf dem ein kleiner Lederbeutel lag. »Ich nehme an, Vivana hat dir gesagt, was ich tun will«, sprach sie ihn ohne Umschweife an.
»Ja.«
»Gut. Dann lass uns gleich anfangen. Setz dich.«
Vivana hatte sich auf einer Truhe niedergelassen und nickte ihm aufmunternd zu, woraufhin er an dem Tischchen Platz nahm. Er konnte immer noch die Berührung ihrer Finger auf seiner Hand spüren. Das gab ihm ein wenig Sicherheit.
Vivanas Tante öffnete den Lederbeutel und holte einen kleinen Gegenstand heraus.
Eine Perle, makellos und schwarz wie ein Stückchen reinste Dunkelheit.
Die Wahrsagerin legte sie in seine geöffnete Hand.
»Wofür ist das?«, fragte er.
»Die Perle hilft mir herauszufinden, ob ich dir trauen kann.«
»Genügt es nicht, dass ich Ihnen mein Wort gebe?«
»Nein«, sagte die Manusch entschieden.
Er warf Vivana einen fragenden Blick zu. Sie zuckte nur mit den Schultern. Offenbar war ihr diese Prozedur genauso fremd wie ihm.
»Sieh mich an«, befahl ihre Tante.
Liam wandte sich zu ihr um und verspürte im gleichen Moment ein Kitzeln auf seiner Handfläche. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Aus der Perle wuchsen Beine. Sie verformte sich, bildete einen zweigeteilten Körper und Beißscheren, wurde innerhalb weniger Augenblicke zu einer Spinne aus Perlmutt. »Was... was ist das?«, stammelte er.
Vivanas Tante gab keine Antwort, blickte ihn nur abwartend an. Liam war vor Entsetzen wie gelähmt. Plötzlich setzte sich das schwarzschimmernde Geschöpf in Bewegung und krabbelte seinen Arm hinauf.
Er erwachte aus seiner Erstarrung, sprang mit einem panischen Ächzen auf und versuchte, die Spinne abzuschütteln. Doch so heftig er sich auch bewegte, sie fiel einfach nicht herunter. Sie klammerte sich irgendwie an seinem Ärmel fest, und er konnte durch das Tuch spüren, wie die dünnen Beine in seine Haut pieksten. »Vivana!«, schrie er und schlug nach der Spinne, verfehlte sie jedoch.
Vivana war aufgesprungen. »Sie ist auf deiner Schulter. Warte, ich helfe dir...«
»Nein, wirst du nicht«, sagte ihre Tante scharf. »Setz dich wieder hin.«
»Mach sie weg!«, schrie Liam, während er sich im Kreis drehte und sich dabei auf die Schulter schlug, ohne die Spinne zu erwischen.
»Stillhalten«, rief Vivana. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sie mit einem Buch ausholte. Gleichzeitig verspürte er einen stechenden Schmerz im Nacken. Im nächsten Moment streifte ihn das Buch, und die Spinne flog durch den Raum. Sie landete auf dem Tisch, wo sie liegen blieb und hilflos mit den Beinen zappelte.
Ein warmes Taubheitsgefühl folgte auf den Schmerz und breitete sich vom Nacken über das Rückgrat in seinem gesamten Körper aus. Zuerst waren Schultern und Arme betroffen, dann die Beine, und er taumelte gegen das Bücherregal. Gift, kam es ihm in den Sinn, das Biest hat mich gebissen... Dann erreichte die Taubheit seinen Kopf und überlagerte seine Gedanken wie Nebel. Schwerfällig stützte er sich auf dem Tisch ab und sank auf den Hocker. Die Umgebung verschwamm. Wie aus weiter Ferne hörte er zwei Stimmen.
»Was hast du mit ihm angestellt?«
»Ich habe dir gesagt, dass es nicht angenehm für ihn werden wird.«
»Aber davon hast du mir nichts gesagt!«
»Jetzt beruhige dich. Das Gift ist nicht gefährlich. Es hält ihn nur davon ab, Lügen zu erzählen.«
»Warum hast du ihn nicht gewarnt?«
»Er hätte sich kaum darauf eingelassen, wenn er gewusst hätte, was geschehen wird.«
Hände berührten ihn. »Er hat Schmerzen.«
»Hat er nicht. Jetzt sei still.«
Die Hände ließen von ihm ab. Wenig später löste sich die Benommenheit allmählich auf. Er fühlte sich immer noch schwer und schläfrig, aber wenigstens konnte er wieder einigermaßen klar denken, wenngleich eine seltsame Gleichgültigkeit von ihm Besitz ergriffen hatte. Er empfand weder Furcht noch Wut, obwohl einem Teil von ihm bewusst war, dass er allen Grund dazu gehabt hätte.
Eine der beiden Stimmen begann, ihm Fragen zu stellen: Woher er Nestor Quindal kannte. Seit wann er im Palast von Lady Sarka arbeitete. Warum er Hilfe benötigte. Ob er wirklich der war, der er vorgab zu sein. Liam hatte eine vage Ahnung, dass es nicht klug war, darauf zu antworten. Die Stimme besaß jedoch eine eigentümliche Macht über ihn, der er sich nicht widersetzen konnte, also sagte er alles, was sie wissen wollte. Schläfrig wie er war, konnte er nur einsilbige Antworten geben, weswegen die Stimme immer wieder nachhakte und ihm weitere Fragen stellte.
»Du suchst also das Gelbe Buch von Yaro D’ar?«
»Ja.«
»Warum?«
»Wegen meines Vaters.«
»Bist du sicher, dass es überhaupt existiert?«
»Ja.«
Neue Fragen, die er gehorsam beantwortete, bis die Stimme alles wusste: Wer sein Vater gewesen war. Warum er hatte sterben müssen. Wo Liam das Buch vermutete. Warum es ihm bisher nicht gelungen war, es aufzuspüren.
»Dein Vater glaubte also, er könnte den Phönix zurückholen?«
»Weiß nicht.«
»Aber er dachte, dass das Buch etwas mit dem Phönix zu tun haben könnte.«
»Ich glaube schon.«
»Wie kam er darauf?«
»Hat er nicht... gesagt.«
Irgendwann endete der Strom der Fragen. Liams Kopf war auf den Tisch gesunken, lag auf seinem Arm. Er hörte wieder die beiden Stimmen, deutlicher diesmal.
»Bist du jetzt zufrieden?«
»Ich weiß alles, was ich wissen muss, falls du das meinst.«
Eine Pause. Dann: »Wann wird die Wirkung nachlassen?«
»Bald.«
»Und du bist ganz sicher, dass ihm das Gift nicht irgendwie geschadet hat?«
»Natürlich. Wofür hältst du mich?« Noch eine Pause, bevor die Stimme fortfuhr: »Du willst ihn also begleiten, wenn er in die Gemächer der Lady eindringt.«
»Du hast doch gehört, was er gesagt hat«, erwiderte die andere Stimme mürrisch.
»Hättest du es mir auch gesagt, wenn er es nicht verraten hätte?«
»Es war unfair, ihn das zu fragen.«
»Das ist keine Antwort, Vivana.«
Liam war, als erwache er aus einem verwirrenden Traum. Die Empfindungslosigkeit, die seinen Körper und seinen Verstand beherrscht hatte, ließ langsam nach und wich dumpfem Kopfschmerz. Er hob den Kopf, blinzelte und stellte fest, dass er wieder klar sehen konnte. Auf der anderen Seite des Tisches saß eine Frau in bunten Röcken. Liam brauchte einen Moment, bis er begriff, dass es sich um Vivanas Tante handelte.
»Liam!« Vivana stürzte zu ihm. »Wie geht es dir?«
Er blickte sich um. Bemalte Holzwände, alte Bücher, Kräuterschnüre - er wusste wieder, wo er war. Entsetzen und Ekel hallten in ihm nach, und er konnte sich vage daran erinnern, dass er vor irgendetwas schreckliche Angst gehabt hatte.
Die Spinne...
Er fuhr so jäh auf, dass der Hocker umfiel, fasste sich in den Nacken und schaute sich hektisch um. »Wo -«
»Keine Sorge«, sagte Vivanas Tante, »die Spinne ist fort.« Sie hob den Lederbeutel.
»Warum haben Sie dieses... Ding auf mich losgelassen?«, krächzte er.
»Das gehört nun einmal zur Prüfung der Wahrheit.«