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Liam wandte sich zu Vivana um. »Hast du das gewusst?«

»Nein. Ehrlich«, antwortete sie.

Er verzog das Gesicht, als der Kopfschmerz von Neuem aufwallte. Vivana stellte den Hocker hin, und er setzte sich. Ihre Tante schob ihm eine Tasse über den Tisch. Sie enthielt Wasser, in dem getrocknete Blätter schwammen.

»Trink das.«

»Was ist das?«, fragte er misstrauisch.

»Ein Mittel gegen die Nachwirkungen des Giftes.«

Zögernd nippte er an der Tasse. Der Tee war kalt und schmeckte frisch und pfeffrig. Schon nach wenigen Schlucken ging es ihm besser. Nach einer Weile fragte er: »Was ist eigentlich gerade passiert?«

»Ich weiß nun, wer du bist und was du vorhast, Liam Satander«, sagte Vivanas Tante.

Sie nannte ihn Satander? An das, was nach dem Spinnenbiss geschehen war, konnte er sich nur noch verschwommen erinnern. Sie hatte ihm zahllose Fragen gestellt... Und er hatte sie beantwortet, jede einzelne davon, hatte der Wahrsagerin all seine Geheimnisse offenbart.

Er fluchte derb.

»Nichts von alldem verlässt meinen Wagen«, sagte sie. »Du hast mein Wort.«

Liam blickte die Manusch unfreundlich an. »Also gut. Sie haben mich geprüft. Und? Bin ich Ihrer Hilfe würdig?«

»Du hast viel Leid erfahren, und deine Absichten sind redlich.«

»Heißt das Ja?«

»Das hängt davon ab, ob ihr mit meinen Bedingungen einverstanden seid.«

»Welche Bedingungen?«, wollte Vivana wissen.

»Es gibt zwei«, sagte ihre Tante und wandte sich an Liam. »Erstens: Wenn du das Buch gefunden hast, bringst du es zu mir.«

»Wozu?«, fragte er mit neu erwachtem Argwohn.

»Damit ich es studieren kann. Ich will überprüfen, ob die Vermutung deines Vaters zutrifft. Ob es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Buch und dem Phönix gibt.« Als Liam zögerte, fügte sie hinzu: »Ihr werdet ohnehin jemanden brauchen, der etwas von solchen Dingen versteht.«

Liam dachte darüber nach. Was die Wahrsagerin verlangte, klang akzeptabel, zumal sie vermutlich recht damit hatte, dass sie ihre Unterstützung benötigen würden, um ein derartiges Schriftstück zu entziffern. »Einverstanden. Und Ihre zweite Bedingung?«

»Du gehst allein«, antwortete die Wahrsagerin.

Vivana konnte nicht glauben, was sie da hörte. »Nein. Ich komme mit. So haben Liam und ich es vereinbart.«

»Ich werde nicht zulassen, dass du dich in Gefahr begibst«, erwiderte ihre Tante.

»Ich kann auf mich aufpassen!«

»Mag sein. Trotzdem ist das Risiko zu groß. Ich habe bereits deine Mutter verloren«, fügte die Manusch hinzu. »Ich will nicht auch noch dich verlieren.«

Vivana hätte sich denken können, dass es darauf hinauslief. Immer lief es darauf hinaus. »Du hörst dich an wie Vater. Dabei habe ich immer gedacht, wenigstens du würdest mich ernst nehmen.«

Doch Tante Livia ließ sich auf keinerlei Diskussion ein. »Das sind meine Bedingungen. Wenn du damit nicht einverstanden bist, bekommt niemand das javva

»Das ist Erpressung.«

»Ich tue das, um dich zu schützen, Vivana. Nicht, um dich zu ärgern.«

Vivana hätte vor Wut am liebsten gegen die Kisten getreten. Tante Livia hatte sie in der Hand. Wenn sie auf ihrem Willen beharrte, würde sie Liam schaden. Die Wahrsagerin wusste genau, dass sie ihm das nicht antun würde.

»Also«, sagte ihre Tante, »kannst du das akzeptieren?«

»Habe ich eine andere Wahl?«

»Ich will, dass du mir dein Wort gibst. Versprich mir, dass du Liam allein gehen lässt.«

»Versprochen!«, fauchte sie.

»Was ist mit dir?«, wandte sich die Wahrsagerin an Liam.

»Ich schätze, die Entscheidung ist schon gefallen, oder?«

»Gut. Dann sind wir uns also einig.« Tante Livia warf ihr einen Versuch-ja-nicht-mich-zu-hintergehen-Blick zu, bevor sie eine ihrer Truhen öffnete. Vivana setzte sich und beobachtete mit finsterer Miene, wie ihre Tante eine Rauchglasphiole auf den Tisch stellte und eine Lederschnur danebenlegte, an der ein winziges Flakon befestigt war. Als die Wahrsagerin gerade nicht hinsah, hob Liam die Schultern und verzog entschuldigend den Mund. Nicht dein Fehler, formte sie stumm mit den Lippen.

»Hier«, sagte Tante Livia. »Das ist javva

Liam nahm die Phiole in die Hand und betrachtete die quecksilbrige Flüssigkeit darin. »Was bewirkt es?«

»Es beschleunigt die Heilung von Wunden aller Art und Knochenbrüchen.«

Er runzelte die Stirn. »Aber was nützt das gegen die Spiegelmänner?«

»Eine Menge. Javva enthält Staub, der aus dem Herzen eines Vampirs gewonnen wird. Er ist es, der dem Elixier seine Kraft verleiht.«

»Eines Vampirs?«, fragte Liam ungläubig. »Ich dachte immer, das sind nur alte Geschichten. Schauermärchen und so weiter.«

»Vampire gab es wirklich, aber es ist lange her«, erklärte die Wahrsagerin. »In Karst gibt es Höhlen, wo welche begraben liegen. Ihre Herzen enthalten einen Rest ihrer Macht, weshalb sie sehr begehrt sind. Irgendwann fanden wir durch Zufall heraus, dass javva eine besondere Nebenwirkung hat. Eine Art... Echo der Kräfte, die der Vampir einst besaß. Wenn man es einnimmt, verliert man für einige Stunden sein Spiegelbild. Dadurch wird man unsichtbar für die Spiegelmänner. Sie haben keine Augen. Sie können nur sehen, was sich in ihren Masken spiegelt. Ihre einzige Schwäche.«

»Keine Augen?«

»Sie sind keine Menschen. Sie sind Homunculi. Alchymistische Kreaturen, erschaffen von Lady Sarka. Sehr mächtig und gleichzeitig unvollständig.«

Liam verzog angewidert den Mund.

Tante Livia nahm ihm die Phiole weg, entkorkte sie und gab vorsichtig einen winzigen Tropfen javva in das kaum fingergliedgroße Glasflakon. Die silbrige Substanz vermischte sich mit dem Wasser darin.

»Nur so wenig?«, fragte er.

»Javva ist selten und kostbar; mehr kann ich nicht entbehren. Aber die Wirkung eines Tropfens hält acht oder zehn Stunden an. Das sollte für deine Zwecke genügen.«

Vivana hatte dem Gespräch nur mit einem Ohr zugehört, denn sie zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie ihre Tante dazu bringen könnte, von ihrer zweiten Bedingung abzurücken. Jetzt horchte sie auf. Acht oder zehn Stunden? Das war lange genug, dass sie vielleicht... Ihre Wut verrauchte, als sie über ihre Idee nachdachte. Ja. Das müsste klappen.

»Obendrein wäre mehr gefährlich«, fuhr die Wahrsagerin fort. »Einige der Ingredienzen sind giftig. Zu viel davon ist schädlich für Körper und Seele. Hier.«

Liam nahm das Flakon entgegen. »Danke.«

»Dank mir, wenn du wohlbehalten zurück bist.«

In diesem Moment schlug irgendwo eine Turmuhr. Vivana blickte aus dem Wagenfenster und stellte fest, dass die Sonne bereits hinter den Dächern versank. »Wir sollten jetzt gehen«, sagte sie. »Die Ausgangssperre.«

»Verdammt«, murmelte Liam, als ihm klar wurde, wie spät es war. Er stand auf und verstaute das Flakon in seiner Hosentasche. Tante Livia brachte sie zur Wagentür.

»Viel Glück. Sei vorsichtig. Und denkt daran: Zu niemandem ein Wort über das javva

Vivana ließ Liam zuerst aussteigen und wandte sich zu ihrer Tante um. »Was vorhin passiert ist... Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen. Es tut mir leid.«

Die Manusch hob eine Augenbraue. »Tatsächlich?«

»Ich war undankbar. Ich weiß es zu schätzen, dass du Liam hilfst.«

»Es ist besser, wenn er allein geht. Glaub mir.«

»Schon gut. Ich sehe es ja ein.«

Tante Livia war von ihrem Sinneswandel nicht restlos überzeugt. »Ich verlasse mich auf dich, Vivana.«

Vivana gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke für alles«, sagte sie, sprang aus dem Wagen und winkte ihr zum Abschied, bevor sie mit Liam davoneilte.