»Tut mir leid, dass ich dir nicht geholfen habe«, meinte er, als sie kurz darauf durch die Gassen gingen. »Aber mir ist einfach nichts eingefallen, wie ich deine Tante hätte umstimmen können.«
»Macht nichts. Ich weiß schon, was wir jetzt tun.«
»Was denn?«
»Ganz einfach: Wir teilen uns das javva.«
Liam war so überrascht, dass er stehen blieb. »Du meinst, das geht?«
»Natürlich. Tante Livia hat gesagt, ein Tropfen hält acht oder zehn Stunden an. Also müsste die Hälfte vier oder fünf Stunden wirken. Das ist immer noch lange genug, oder?«
»Und das Versprechen, das du ihr gegeben hast?«
Vivana blickte zu Boden, als sich ihr schlechtes Gewissen regte. Sie hatte ihre Tante noch nie hintergangen und war nicht gerade stolz auf das, was sie vorhatte. Aber die Vorstellung, untätig herumzusitzen, während Liam allein durch den Palast schlich, konnte sie noch weniger ertragen. Das wäre so, als ließe sie ihn im Stich. »Na ja, sie hat mir schließlich keine Wahl gelassen. So ein Versprechen muss man nicht halten, oder?«
Er grinste verschmitzt. »Ich schätze, man könnte es als Vertrag unter Zwang bezeichnen. Der somit nichtig wäre. Das würde dir jedes Gericht bestätigen.«
Vivana lächelte schief. Dass Liam sie verstand, linderte das schlechte Gewissen - zumindest ein wenig.
In diesem Moment kam ein Soldatentrupp um die Ecke. Die Männer trugen Filzmützen sowie graue Röcke mit dem goldenen Phönix auf Brust und Rücken und hatten ihre Hakenlanzen geschultert. Ihr Captain rief: »Noch eine halbe Stunde! Geht nach Hause, Leute!«
Vivana und Liam folgten der breiten Gasse zum Wollmarkt, wo sie das Labyrinth verließen. Wenig später kam der Palasthügel in Sicht, sodass es Zeit für den Abschied wurde.
»Danke, dass du dich so für mich eingesetzt hast«, sagte Liam. »Das bedeutet mir sehr viel.« Er lächelte sie an - und da war es wieder, dieses seltsame Gefühl, das ihr Herz wie verrückt klopfen ließ. Hastig senkte sie den Blick, damit er nicht bemerkte, was in ihr vorging. Obwohl sie sich gar nicht sicher war, ob sie überhaupt wollte, dass er es nicht bemerkte.
»Keine Ursache«, murmelte sie.
Leise sprach er weiter: »Komm morgen bei Einbruch der Dunkelheit zur Nordseite des Gartens. Ich erwarte dich hinter der Mauer, neben dem geflügelten Löwen. Du kannst ihn von außen sehen.«
»Wäre es nicht einfacher, ich besuche dich im Palast? Offiziell sind wir schließlich miteinander verwandt.«
»Man wird dich nicht hineinlassen. Die Spiegelmänner sind vorsichtig geworden. Es ist besser, wir machen es so.«
»Also gut.«
Plötzlich herrschte verlegenes Schweigen zwischen ihnen. Es gab so vieles, das Vivana gerne gesagt hätte, aber irgendwie fand sie nicht die richtigen Worte dafür.
»Es wird Zeit«, sagte Liam schließlich. »Also, pass auf dich auf.«
Er wollte nach ihrer Hand greifen, doch dann zögerte er und streifte sie nur. Er lächelte noch einmal, bevor er sich abwandte und in Richtung Palast ging.
Vivana sah ihm nach, bis ihn die Schatten zwischen den Gaslaternen verschluckten. Ihr Herz klopfte immer noch heftig.
Sie hatte es geschafft. Sie hatte Tante Livia ein Flakon mit javva abgerungen, und morgen würde sie gemeinsam mit Liam das größte Abenteuer ihres Lebens bestehen. Für einen Augenblick war sie so glücklich wie schon lange nicht mehr.
Doch die Euphorie hielt nicht lange an. Als sie zum Palast aufblickte, kam ihr der ganze Plan plötzlich wie die abwegigste Idee der Welt vor. Sie wollten in den Palast von Lady Sarka einbrechen, in die Privatgemächer der mächtigen Herrscherin von Bradost, ein Junge und ein Mädchen, die nichts besaßen als ihren Mut und ein Fläschchen mit magischem Elixier. So ein Vorhaben musste einfach scheitern.
Bedrückt machte sie sich auf den Heimweg.
Ein Blitz flackerte am Himmel auf, gefolgt von Donner, der über die Stadt rollte.
30
Erinnerungen
Gedankenverloren streifte Lucien durch Flure und Zimmer, während von draußen das Klagen des Windes hereindrang. Nirgendwo brannte eine Lampe oder wenigstens eine Kerze, und das vergehende Abendlicht, das durch die Fensterscheiben sickerte, wich allmählich der Dunkelheit in den Korridoren.
Das Haus stand irgendwo in der Altstadt Bradosts und wirkte unscheinbar und klein inmitten der herrschaftlichen Patrizieranwesen, die es umgaben. Efeu kletterte an der verwitterten Fassade empor und überdeckte Simse und Steinmetzornamente mit seinen Ranken. Kamine, von denen niemals Rauch aufstieg, krönten das steile Schieferdach. Die Zimmer enthielten Möbel aus Ebenholz, kostbare Teppiche bedeckten die Böden, die Decken waren mit Stuckarbeiten versehen. Auf der Rückseite gab es einen Hof mit hohen Mauern, in den kaum je ein Sonnenstrahl drang. Ein Brunnen stand dort. Das Wasser plätscherte aus dem Schnabel eines steinernen Greifen, im Becken schwammen die Blätter der alten Birke, die in einer Ecke wuchs.
Das Haus war verlassen, lange schon. Wem es gehörte, wusste niemand. Die Männer, die es instand hielten, glaubten, es sei im Besitz einer alten Adelsfamilie. Lucien selbst hatte dieses Gerücht verbreitet. Seine Anweisungen hinterlegte er einmal im Monat schriftlich auf einem Tischchen in der Eingangshalle, zusammen mit dem Lohn und dem Geld für die Reparaturen, sodass er den Arbeitern niemals begegnete. Sie stellten keine Fragen, wofür er sie gut bezahlte.
Fast jeder Schilling, den er mit dem Verkauf von Diebesgut verdiente, floss in dieses Haus. Lucien hätte es nicht ertragen, es verfallen zu sehen. Es steckte voller Erinnerungen - Erinnerungen an Caitlin.
In den Wandregalen standen ihre Bücher. In der Schatulle auf der Kommode lag ihr Silberschmuck. In den Schränken hingen ihre Kleider.
Dort, am Fenster, hatte sie jeden Abend gesessen und dem Treiben in den Gassen zugeschaut.
Da, vor dem Spiegel, hatte sie ihr kastanienbraunes Haar gebürstet.
In der kupfernen Wanne hatte sie ein Bad genommen, wenn es draußen stürmte und schneite.
Im Bett mit dem nachtblauen Baldachin hatten sie sich geliebt.
Lucien ging von Zimmer zu Zimmer, strich behutsam über Möbelstücke, Wandteppiche, Vorhänge. Keine Ecke, die nicht von ihrem Wesen durchdrungen war, kein Winkel, wo es nichts gab, das an sie erinnerte. Manchmal spürte er ihre Gegenwart so deutlich, als wäre sie eben noch hier gewesen. Dann glaubte er für einen Moment, ihr Lachen zu hören oder den Duft ihres Parfüms zu riechen, woraufhin er die Augen schloss und ihr Gesicht vor sich sah. Von Jahr zu Jahr verblasste es ein wenig mehr, so sehr er auch dagegen ankämpfte, und er fragte sich, wann der Tag kommen würde, an dem er sie endgültig vergaß.
Er liebte dieses Haus und hasste es zugleich. Bei allem Glück, das er hier fand, erinnerte es ihn stets daran, wie einsam er war.
Lucien seufzte. Zwei Tage in diesen stillen Fluren und Zimmern waren mehr, als er ertragen konnte. Und gebracht hatte es ihm nicht das Geringste - er wusste immer noch nicht, was er wegen Aziel unternehmen sollte.
Er goss etwas Absinth in ein Glas, mischte ihn mit Eiswasser und Zucker und setzte sich an ein Fenster. Draußen bogen sich die Pappeln im Wind, der durch die menschenleere Straße wehte. Seit gestern Nacht hingen Gewitterwolken über der Stadt. Gelegentlich blitzte und donnerte es, aber das Unwetter brach aus irgendeinem Grund nicht los. Als würde es auf etwas warten.
Lucien nippte an seinem Glas und dachte zum hundertsten Mal über das Dilemma nach, in dem er steckte. Wenn er Aziel von seiner Entdeckung im Palast der Lady berichtete, würde dieser zweifellos versuchen, den Traumwanderer auszuschalten. Tat er es nicht, würde sich Lady Sarka die Kräfte des Jungen zunutze machen, was gewiss nichts Gutes bedeutete. Für beides wollte er nicht die Verantwortung tragen. Er konnte nur hoffen, dass sich das Problem irgendwie von selbst erledigte, wenn er sich nur lange genug ruhig verhielt - obwohl so etwas nach seiner Erfahrung eigentlich nie geschah.