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Düster vor sich hinbrütend betrachtete er den brodelnden Himmel über den Dächern. Als er den Absinth ausgetrunken hatte, ging er zur Anrichte, um sich einen neuen zu mischen.

Im gleichen Moment hörte er ein Geräusch.

Es klang wie das Brechen von Holz und kam aus dem Untergeschoss. Blitzschnell huschte Lucien zu dem Stuhl, über dem sein Gürtel hing, zog ein Messer und schlich zur Treppe, wo er den Atem anhielt und lauschte.

Jemand war im Keller.

Fast jedes Haus in der Altstadt besaß einen Zugang zur Unterwelt von Bradost, so auch seines. Als die Ghulplage immer schlimmer geworden war, hatte er die Tür zugenagelt, aber wie es schien, hatte das den Eindringling nicht aufgehalten.

Er spähte nach unten und erhaschte einen Blick auf zwei weiße Gestalten mit violettem Haar. Die Víla-Zwillinge! Lucien fluchte. Also hatte Aziel ihn gefunden. Lautlos hastete er den Flur entlang. Vielleicht konnte er durch die Eingangshalle entkommen.

Doch bevor er die Tür erreichte, flog diese mit einem Krachen auf. Seth kam herein. Eine Woge aus heißer, fast brennender Luft begleitete ihn.

Lucien wirbelte zum Flur herum. Die beiden Vílen erschienen am oberen Ende der Treppe. Blieb als Fluchtweg nur noch das nächstgelegene Fenster.

Mit einem geschickten Sprung hätte er es vermutlich erreichen können, bevor Seth bei ihm war, doch plötzlich überkam ihn Resignation. Er konnte nicht ewig davonlaufen. Irgendwann musste er sich Aziel stellen, also konnte er es genauso gut jetzt tun.

Er ließ das Messer sinken und setzte eine gelassene Miene auf. »Na, wieder aus dem Pandæmonium zurück?«, fragte er Seth.

Der Halbdämon antwortete mit einem wölfischen Grinsen.

Hinter ihm erschien ein massiger Schemen. Der Wind zerrte an Aziels Robe und peitschte sein schlohweißes Haar hierhin und dorthin, als der uralte Alb durch die Tür trat. Während er gemessenen Schrittes den Raum durchquerte, glitt sein Blick über Wände, Türen, Möbelstücke. »Ich nehme an, das ist das Haus, wo du mit dieser Menschenfrau gelebt hast.«

»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Lucien.

»Ich habe meine Mittel und Wege. Warum versteckst du dich vor mir?«

»Um nachdenken zu können.«

Der einstige Albenherrscher betrachtete die Gemälde an der Wand. »Worüber?«, fragte er beiläufig. »Traumwanderer und dergleichen?«

Also war Aziel dahintergekommen. Lucien hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Doch er verbarg sein Erstaunen und schwieg abwartend.

Aziel fuhr zu ihm herum. »Er hat mich in meinem eigenen Palast überrascht!«, sagte er schneidend. »Das wäre mir erspart geblieben, wenn du mich gewarnt hättest.«

»Wie kommst du darauf, dass ich davon weiß?«

»Hör auf, mich zum Narren zu halten! Ich gebe dir den Auftrag, den Palast der Lady zu untersuchen, doch statt zurückzukommen, verschwindest du spurlos. Keinen Tag später taucht ein Traumwanderer auf. Ein seltsamer Zufall, was?«

»Zufälle geschehen«, sagte Lucien.

Aziels Augen glitzerten unheilvoll. »Ich habe allmählich genug von deinen Spielchen. Was hast du herausgefunden? Steht der Traumwanderer in den Diensten von Lady Sarka?«

»Angenommen, es wäre so - was würdest du dann unternehmen?«

»Seth«, knurrte der ältere Alb.

Die Luft um den Incubus begann zu flirren. Flammen tanzten über seinen roten Anzug.

»Ein Wort von mir, und er legt dieses Haus in Schutt und Asche«, sagte Aziel. »Du hängst doch sehr daran, oder? All diese Erinnerungen... Ich schätze, es würde dich schmerzen, sie verbrennen zu sehen.«

Lucien rieb mit dem Daumen über die Messerklinge. »Wenn irgendetwas in diesem Zimmer Schaden nimmt, schicke ich deine Höllenbrut zurück ins Pandæmonium«, erwiderte er kalt.

»Womit? Diesem Messer? Mach dich nicht lächerlich. Du weißt selbst, wie mächtig er ist.«

»Pfeif ihn zurück.«

»Wirst du dann vernünftig sein?«

»Ich sage dir, was ich weiß.«

Aziel gab dem Incubus ein Zeichen, woraufhin die Flammen auf dessen Armen erloschen. Doch das Glühen in Seths Augen war ein Versprechen, dass er das Feuer, das in seinem Innern loderte, jederzeit zurückholen konnte.

Lucien ließ den Halbdämon nicht aus den Augen, während er sagte: »Ich habe nicht viel herausgefunden. Lady Sarka schützt ihre Gemächer mit einem Drudenfuß. Offenbar wusste sie, dass früher oder später einer von uns auftauchen würde.«

»Und der Traumwanderer?«, fragte Aziel bohrend.

»Wohnt im Palast. Er ist noch ein Junge, höchstens fünfzehn Jahre alt.«

»Ich weiß. Ich habe ihn gesehen.«

»Seine Gabe ist gerade erst erwacht. Sie ist noch nicht voll ausgeprägt.«

»Was hat die Lady mit ihm vor?«

»Ich nehme an, dass sie ihn ausbildet, damit er lernt, seine Gabe zu beherrschen.«

»Genau wie damals bei Corvas, Umbra und Amander«, sagte Aziel düster. »Sie wird ein Monster aus dem Jungen machen.«

»Das ist nicht gesagt«, erwiderte Lucien.

»Erspar mir deine Ansichten!«, fuhr ihn der ältere Alb an. »Schau dir an, was geschehen ist, und dann weißt du, was sie plant. Diese ganze Sache mit dem Harlekin hatte nur einen Zweck: Sie wollte, dass die Träume schutzlos sind.«

»Dazu hätte sie wissen müssen, dass der Harlekin mit unserem Volk die Welt verlassen wird, sowie er König ist.«

»Das war kein Geheimnis. Zumindest nicht für Leute wie Lady Sarka, die etwas von diesen Dingen verstehen.«

Lucien musste ihm widerwillig recht geben. Als der Harlekin vor hundert Jahren aus demselben Grund gegen Aziel rebelliert hatte und besiegt und eingekerkert worden war, hatte jeder halbwegs begabte menschliche Seher binnen weniger Tage davon erfahren. Derartige Ereignisse erschütterten die Schattenwelt wie ein Erdbeben.

»Und jetzt dieser Traumwanderer«, fuhr Aziel fort. »Siehst du nicht, wie alles zusammenpasst? Zuerst hat sie ihm den Weg frei gemacht, und jetzt wird sie mit seiner Hilfe nach den Träumen greifen. Und komm mir nicht damit, dass er nicht die Macht dazu hätte! Wir haben schon einmal einen Traumwanderer erlebt. Du weißt so gut wie ich, wozu ein Mensch mit dieser Gabe fähig ist.«

Lucien hatte diesen Vorfall noch gut in Erinnerung, obwohl er Jahrhunderte in der Vergangenheit lag. Auch jener Traumwanderer war ein gewöhnlicher Mensch gewesen, ein Gelehrter aus Torle. Schon damals hatte niemand erklären können, warum ein Sterblicher diese Kräfte besaß - offenbar eine Laune des Schicksals, genau wie jetzt. Es hatte Monate gedauert, ihm das Handwerk zu legen und die Schäden zu beseitigen, die er an den Träumen angerichtet hatte. Aziels Befürchtungen waren nicht übertrieben, und je länger Lucien darüber nachdachte, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass Aziels Verdacht zutreffen könnte. Lady Sarkas Herrschaft war brüchig. Ständig gab es Unruhen, und Attentäter trachteten ihr nach dem Leben. Möglicherweise erhoffte sie sich einen Gewinn an Macht, wenn sie die Träume und damit die Seelen ihrer Untertanen kontrollierte.

Lucien schauderte. Was für ein wahnwitziger Plan...

Aziel starrte ihn an. »Sag mir, wo genau sich der Traumwanderer aufhält.«

»Warum willst du das wissen?«

»Ich muss ihn aufhalten.«

Das war genau die Antwort, die Lucien befürchtet hatte. »Warum gehst du nicht zu seinem Seelenhaus? Sprich mit ihm, wenn er das nächste Mal träumt. Sag ihm, dass es falsch ist, was er tut.«

»Sein Seelenhaus ist leer. Er weiß, dass ich ihn suche. Er hat irgendetwas unternommen, dass er nicht mehr träumt.«

»Dann rede hier mit ihm.«