Выбрать главу

»Nein. Die Träume sind bedroht wie nie zuvor. Eine solche Gefahr lässt sich nicht mit guten Worten aus der Welt schaffen.«

»Was heißt das? Willst du ihn töten?«

Aziels Schweigen war Antwort genug.

»Das kannst du nicht tun«, sagte Lucien. »Bei allen Höllen, Aziel, er ist nur ein Junge!«

»Ein Junge mit mehr Macht, als einem Sterblichen zusteht.«

»Dafür kann er nichts.«

Der einstige Albenkönig wandte sich ab und machte eine herrische Geste, die das ganze Haus einschloss. »Es ist wegen dieser Frau, nicht wahr?«, bellte er. »Du bist so vernarrt in die Menschen, dass du blind geworden bist. Blind für ihre Machtgier und Bosheit.«

»Caitlin war nicht boshaft.«

»Sie ist seit zweihundert Jahren tot! Komm endlich darüber hinweg!«

»Hundertfünfzig«, sagte Lucien. »Es ist erst hundertfünfzig Jahre her.«

Aziels Augen verengten sich zu Schlitzen. »Na schön, Lucien, ich frage dich ein letztes Maclass="underline" Wo im Palast ist der Junge?«

Lucien schwieg.

»Du verweigerst mir deine Hilfe?«

»Ja.«

»Dann betrachte ich dich nicht länger als Freund.« Aziel schritt durch die Halle und befahl den Vílen mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.

»Wohin gehst du?«

»Den Jungen suchen. Ich finde ihn auch ohne dich.«

Lucien bemerkte, dass sich Seth nicht von der Stelle rührte. »Was ist mit ihm?«

»Er wird hierbleiben und dich im Auge behalten, bis alles überstanden ist.«

»Du setzt mich gefangen? In meinem eigenen Haus?«

»Du lässt mir keine andere Wahl. Seth, sieh zu, dass er nicht versucht zu fliehen.«

Der Incubus richtete den Blick seiner glühenden Augen auf Lucien. Flammen züngelten aus dem Boden. Sie bildeten einen Kreis, der Lucien einzuschließen begann.

»Aziel!«, schrie er. »Du verdammter Bastard, komm sofort zurück!«

Doch Aziel wandte sich nicht um, während er mit den Vílen zum Flur ging.

Die Flammen reichten Lucien bereits bis zu den Knien und wuchsen weiter in die Höhe. Die Hitze raubte ihm schier den Atem, sodass er husten musste.

Seth lächelte dünn. »Das bisschen Feuer macht dir schon zu schaffen? Und du wolltest mich ins Pandæmonium zurückschicken?«

Lucien kämpfte mit zusammengebissenen Zähnen gegen Schmerzen und Schwäche an. »Inzwischen reicht es mir, dir wehzutun«, ächzte er.

»Ach ja? Wie denn?«

Der Wurfdolch bohrte sich in Seths Oberarm. Der Incubus taumelte zurück und glotzte ihn ungläubig an, bevor sich sein Gesicht in eine Fratze des Hasses verwandelte. Als er den Messerschaft packte, um die Klinge aus der Wunde zu ziehen, sprang Lucien über die Flammen und rammte ihm den Kopf in den Bauch. Seth prallte gegen einen Schrank und keuchte vor Schmerz. Lucien beförderte ihn mit einem Faustschlag zu Boden, setzte mit einem Sprung über den benommenen Halbdämon hinweg, rannte durch die Halle und klopfte im Laufen die Flammen aus, die an seinem Hosenbein leckten.

Alles war so schnell gegangen, dass Aziel erst jetzt bemerkte, was geschah. »Haltet ihn auf!«, dröhnte er, woraufhin die bleichen Zwillinge ihre krallenartigen Hände nach Lucien ausstreckten. Er schlug einen Haken, stieß einer Víla den Ellbogen ins Gesicht, dann war der Weg frei. Lucien hastete zur Treppe und nahm mit jedem Schritt mehrere Stufen auf einmal, während er nach unten rannte.

Er musste in die Katakomben fliehen. Nur dort hatte er eine Chance zu entkommen.

»Bleib stehen!«, brüllte Aziel ihm nach. »Was du tust, ist Verrat!«

Lucien erreichte den Keller, wo sich in den Gewölbekammern leere Weinfässer und Kisten voll mit Erinnerungsstücken auftürmten. Er schlüpfte durch die Tür, die die Vílen bei ihrem Eindringen zertrümmert hatten, und hetzte den dunklen Tunnel entlang. Als er kurz darauf zu einer Kreuzung kam, entschied er sich nach kurzem Zögern, nach Süden zu laufen. Dem Jungen würde es nicht helfen, dass Aziel nicht wusste, wo er sich aufhielt. Aziel würde seine Präsenz spüren, sowie er den Palast betrat, und ihn daraufhin mühelos finden. Lucien musste ihn warnen.

Ihm fiel ein, dass er kein javva mehr hatte. Ohne das Elixier kam er nicht an den Spiegelmännern vorbei. Egal - irgendwie würde er es schaffen, zu dem Jungen vorzudringen.

Er hörte Stimmen und hastige Schritte näher kommen. In der Dunkelheit hinter ihm flackerte Feuer auf. Seth war offenbar nicht so schwer verletzt, dass er zurückbleiben musste.

Ein Incubus, zwei Vílen und der mächtigste aller Alben waren ihm auf den Fersen - und er hatte keine einzige Waffe bei sich. Lucien rannte, so schnell er konnte.

Im Haupttunnel durfte er nicht bleiben, denn dort konnte Seth ihn aus sicherer Entfernung mit seinem Höllenfeuer niederstrecken. Er bog in einen Seitengang ein, in der Hoffnung, seine Verfolger in dem labyrinthischen Tunnelgewirr abzuschütteln.

Die Luft roch stickig, nach Moder und Fäulnis. Das Mauerwerk war alt, uralt, Knochen stapelten sich in den Nischen. Lucien setzte mit einem Sprung über einen Trümmerhaufen hinweg, gelangte zu einer weiteren Kreuzung - und blieb abrupt stehen.

Augenpaare glühten in der Finsternis auf.

Ghule.

Und sie kamen geradewegs auf ihn zu.

31

Das gelbe Buch von Yaro D’ar

Am späten Nachmittag wurde der Wind immer heftiger. Als es kaum noch möglich war, im Garten zu arbeiten, gab Ibbott Hume seinen Gehilfen für den Rest des Tages frei, woraufhin sich Liam und Jackon in den Gemeinschaftsraum setzten und die Zeit totschlugen. Nach einer halben Stunde sagte Jackon, er sei müde, und zog sich in seine Kammer zurück. Es war Liam schon gestern aufgefallen, dass mit Jackon etwas nicht stimmte. Der Rothaarige war wortkarg und wirkte übernächtigt und bedrückt. Er hatte sich nicht einmal nach Liams Treffen mit Vivana erkundigt, obwohl er noch am Tag zuvor vor Neugierde schier geplatzt war, als Liam sie einmal erwähnt hatte. Liam sprach ihn darauf an, bekam jedoch nur eine ausweichende Antwort. Was immer Jackon zu schaffen machte, er wollte nicht darüber reden.

Nachdem der Rothaarige gegangen war, wurde Liams innere Unruhe immer größer. Die Zeit bis Sonnenuntergang verstrich quälend langsam. Um auf andere Gedanken zu kommen, blätterte er in den Zeitungen, die im Gemeinschaftsraum herumlagen, doch er konnte sich nicht auf den Text konzentrieren. Wieder und wieder dachte er über die bevorstehende Nacht und die Gefahren nach, die Vivana und ihn erwarteten. Mit dem javva würde es nicht schwierig werden, in den Kuppelsaal einzudringen. Aber was, wenn es dort auch andere Wächter gab, gegen die das Elixier wirkungslos war - Wesen wie das unheimliche Zwergending? Oder wenn sie gar Lady Sarka höchstpersönlich begegneten? Je länger Liam sich Gedanken machte, desto mehr Tücken und Hindernisse, auf die sie stoßen könnten, fielen ihm ein. Schließlich fragte er sich, ob dieser verrückte Plan sie nicht geradewegs ins Verderben führte.

Ibbott Hume, der mit ihm im Gemeinschaftsraum saß, bemerkte irgendwann seine Nervosität. Liam schob seine Unrast auf das seltsame Wetter und ging zu seiner Kammer, bevor Hume misstrauisch werden konnte. Dort setzte er sich ans Fenster und wartete darauf, dass es endlich dunkel wurde.

Der Wind peitschte Büsche und Bäume und ließ Blätter und Zweige durch die Luft wirbeln. Vom Karst im Norden kam ein nicht endender Strom von Wolken, die schwarz und tief über der Stadt hingen und zum Meer weiterzogen, ohne ihre Gewitterlast unterwegs abzuladen. Es war mehr als einen Tag her, dass Liam das letzte Mal die Sonne gesehen hatte.

Schließlich, nach endlosen Stunden, begann sich die Nacht herabzusenken. Gaslaternen flammten in den Gassen auf. In der Altstadt machten Ausrufer die Runde, verkündeten den Beginn der Ausgangssperre in einer halben Stunde und forderten die Leute auf, nach Hause zu gehen. Ihre Stimmen waren im Heulen des Windes kaum zu verstehen.