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Liam atmete zweimal tief durch, bevor er seine Kammer verließ.

Für den Fall, dass jemand wissen wollte, wohin er ging, hatte er sich den Vorwand zurechtgelegt, er habe seine Jacke im Garten vergessen. Doch niemand sprach ihn an, als er nach draußen trat.

Der Wind war so stark, dass er sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegenstemmen musste, um voranzukommen. Abgesehen von den Spiegelmännern vor dem Hauptportal und jenen vor dem Gesindetrakt hielt sich niemand draußen auf. Liam ging gemächlich den Weg entlang, bis das Buschwerk ihn verdeckte, und huschte dann zur Mauer, der er folgte, bis er zu der Statue des geflügelten Löwen kam.

Kletterpflanzen überwucherten die verwitterte Steinfigur, der ein Flügel fehlte. Liam presste sich gegen das Mauerwerk und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war, bevor er leise rief: »Vivana? Bist du da?«

»Hallo, Liam«, lautete ihre Antwort. »Kannst du mir helfen?«

Er setzte einen Fuß auf den Sockel und zog sich an der Statue hoch. Vivana reichte ihm erst ihre lederne Umhängetasche, bevor sie seine Hand ergriff und mit seiner Hilfe über die Mauer kletterte, wobei sie darauf achtete, sich nicht an den Eisendornen auf der Mauerkrone zu verletzen.

»Es kann losgehen«, sagte sie und grinste ihn an. Sie hatte ihr Haar zusammengebunden und trug unauffällige Kleidung: Lederschuhe, ein graues Hemd und dunkle Hosen. »Hast du das javva

Er holte das Flakon aus seiner Hosentasche und schraubte es auf. Gespannt beobachtete sie, wie er das Fläschchen an seine Lippen setzte. Unwillkürlich musste er daran denken, wie Vivanas Tante gesagt hatte, einige der Ingredienzen seien giftig. Schließlich gab er sich einen Ruck und trank.

Zuerst spürte er gar nichts. Dann durchlief ihn plötzlich ein fiebriger Schauer, zuerst heiß, dann kalt, und er fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren. Mit einer Hand hielt er sich an der Statue fest, während die Benommenheit langsam schwand. »Ist es normal, dass sich das so anfühlt?«

»Keine Ahnung. Ich habe das Zeug auch noch nie probiert.«

»Jetzt du.«

Sie trank den Rest der Flüssigkeit und blinzelte, als das Elixier zu wirken begann.

»Wenn wir alles richtig gemacht haben, dürften wir jetzt kein Spiegelbild mehr haben, oder?«, fragte Liam.

»Ich habe meinen Handspiegel dabei. Drinnen können wir nachsehen.«

Inzwischen war das seltsame Schwindelgefühl verschwunden. »Komm!« Im Schutz der Büsche gelangten sie zum Gesindeflügel, wo sie sich wenige Schritte von Liams Kammer entfernt hinter einer Hecke versteckten. Sein Fenster hatte er wohlweislich offen gelassen und festgebunden, damit es nicht im Wind klapperte. Mit klopfendem Herzen blickte er zu den Spiegelmännern vor der Tür des Traktes, von denen in der Dämmerung kaum mehr zu erkennen war als die beiden glitzernden Masken.

»Warte«, sagte Vivana, als er loslaufen wollte. »Vergiss nicht, dass uns das javva nur unsichtbar macht. Hören können uns die Spiegelmänner weiterhin. Sei also leise.«

So schnell es der Wind zuließ, eilten sie zum Fenster. Die Spiegelmänner bemerkten sie nicht - ob wegen des javva oder wegen der zunehmenden Dunkelheit, konnte Liam nicht beurteilen. Nacheinander kletterten sie hinein.

»Was jetzt?«, fragte Vivana.

»Zuerst müssen wir durch den Gesindeflügel. Um diese Zeit sollten die Bediensteten normalerweise alle in ihren Betten liegen, aber zur Sicherheit sollten wir noch etwas warten.«

Sie öffnete ihre Tasche, holte den Handspiegel heraus und warf einen Blick hinein. »Es funktioniert! Hier, sieh es dir an.«

Liam nahm den kleinen Spiegel und hielt ihn sich vor das Gesicht. Er zeigte das Fenster seiner Kammer. Von ihm selbst war nicht das Geringste zu sehen. Gänsehaut bildete sich an seinen Armen.

Er gab Vivana den Spiegel zurück und lauschte an der Tür. Wenig später hörte er jemanden eine Melodie pfeifen: Hume, der gerade zu seiner Kammer ging. Als seine Schritte verklungen waren, kehrte Stille ein. Nach einer Weile öffnete Liam die Tür.

Auf dem Gang und im Gemeinschaftsraum war es dunkel. Außer dem Heulen des Windes hörte er nichts.

Er lehnte die Tür an und wandte sich zu Vivana um. »Ich habe nachgedacht«, sagte er zögernd. »Vielleicht sollten wir auf deine Tante hören. Warum wartest du nicht hier, während ich das Buch suche?«

»Was redest du da?«, erwiderte sie. »Ich komme mit dir.«

»Aber ich will dich nicht in Gefahr bringen.«

»Keine Sorge. Ich bin vorbereitet.« Aus der Tasche zog sie die Pistole ihres Vaters.

Liam konnte kaum glauben, was er sah. »Bist du verrückt? Du kannst doch nicht mit einer Waffe herumlaufen!«

»Und warum nicht?«, fragte sie ruhig.

»Weil... Verdammt, kannst du überhaupt damit umgehen?«

»Natürlich. Mein Vater hat es mir beigebracht. Inzwischen bin ich sogar besser als er.« Sie ließ die Pistole wieder in der Tasche verschwinden. »Wollen wir reden oder endlich losgehen?«

Liam gab auf. Im Grunde wollte er gar nicht, dass Vivana hier blieb. Schließlich brauchte er jede Hilfe, die er bekommen konnte. Und was die Waffe betraf - vielleicht würde sie sich als nützlich erweisen, obwohl er inständig hoffte, dass es nicht dazu kam. »Hast du noch etwas in deiner Tasche, von dem ich wissen sollte?«

»Was man eben so braucht. Vertrau mir.«

Sie traten hinaus auf den Gang. Im Gesindeflügel begegnete ihnen niemand. Kurz darauf kamen sie zur Eingangshalle.

Liams Mund wurde trocken vor Angst, als sie an den Spiegelmännern unter den Galerien vorbeischlichen. Kein Maskierter rührte sich von der Stelle, nicht einmal dann, als sie einer der Gestalten so nahe kamen, dass Liam sie hätte berühren können. Die Spiegelmänner konnten sie tatsächlich nicht sehen. Trotzdem legte sich seine Furcht nicht vollständig. Er wünschte, es hätte einen anderen Weg gegeben, als sein Leben einem magischen Elixier anzuvertrauen, dessen Wirkung er nicht einmal ansatzweise begriff.

Von der Halle aus folgten sie dem Korridor zum Kuppelsaal. Es war dunkel; die Nacht presste sich gegen die Scheiben der hohen Fenster. In der Ferne, jenseits der Stadt, zuckten Blitze. Falls es Donner gab, so übertönte ihn der Wind.

Genau wie bei Liams erstem Streifzug standen vor der Treppe, die zu der zweiflügeligen Tür hinaufführte, zwei Spiegelmänner.

Er hielt den Atem an und huschte zwischen den beiden statuengleichen Wachen hindurch, die Treppe hinauf. Vivana folgte ihm.

Vorsichtig öffnete Liam einen Türflügel. Zu seiner Erleichterung waren die Angeln so gut geölt, dass sie nicht das kleinste Geräusch verursachten. Sie schlüpften hinein und schlossen die Tür hinter sich.

Blaues Licht erfüllte den Kuppelsaal.

Trotz seines Unbehagens verspürte Liam für einen Moment ein Gefühl ungeheuren Triumphs. So weit war er noch nie gekommen! Jetzt musste es ihnen nur noch gelingen, in Lady Sarkas Gemächer einzudringen und das Buch zu finden. Plötzlich durchströmte ihn die Gewissheit, dass sie es schaffen würden.

Leise stiegen sie die Stufen zur Empore hinauf, wo sich die einzige Tür befand, unbemerkt von den Spiegelmännern, die auf der Galerie Wache hielten.

Liam vergewisserte sich, dass die Maskierten von ihrer Position aus die Tür nicht sehen konnten. Er griff nach dem silbernen Knauf - und hielt inne, als er ein seltsames Zeichen bemerkte, das in den Türsturz eingekerbt war.

Vivana berührte ihn am Arm und machte ihn mit einer Geste darauf aufmerksam, dass einer der Spiegelmänner seinen Posten verlassen hatte und sich lautlos wie ein Schatten näherte. Liams Herz setzte einen Schlag aus, als er dachte, der Maskierte habe sie bemerkt. Doch nichts deutete darauf hin, dass das Geschöpf sie sehen konnte; offenbar machte es nur einen routinemäßigen Rundgang. Liam wartete, bis ein Pfeiler dem Spiegelmann die Sicht versperrte, und öffnete die Tür.