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Der Blitzhändler

In geschlossener Formation rückten die Soldaten vor und drängten die wütende Menge mit den Schäften ihrer Piken zurück. Ein Hagelschauer aus Unrat prasselte auf sie nieder, Flaschen, faulige Kartoffeln und Steine prallten von Helmen und Brustpanzern ab. Gebrüll erfüllte den kleinen Platz, Männer schüttelten ihre Fäuste, riefen Beleidigungen und schwenkten Äxte, Schmiedehämmer und Schaufeln. Andere hatten das Dach einer Taverne erklommen und leerten ein Müllfass über den Soldaten aus.

Liam Satander beobachtete den Tumult von einer dunklen Sackgasse aus, wo er sich hinter einem Stapel aus Gemüsekisten und leeren Weinfässern versteckte. Leise fluchte er vor sich hin. Wenn er die Gasse verließ, geriet er genau zwischen die Soldaten und die Menge. Über die Mauer in seinem Rücken klettern konnte er auch nicht - nicht mit seinem Handkarren und den beiden Kupferfässern. Und den frischen Aether hier zurückzulassen war einfach undenkbar. Er hatte gerade über zwanzig Schilling dafür bezahlt.

Keine Frage, er saß gründlich in der Klemme. Dabei hatte er schon auf dem Hinweg gespürt, dass sich im Viertel etwas zusammenbraute. Er hätte sich auf sein Gefühl verlassen und von der Aetherbörse durch die Randbezirke Scotias gehen sollen. Das war zwar ein Umweg, aber dann wäre er wenigstens nicht hier hineingeraten.

Jede Woche dasselbe, seit Monaten. Wenn es keine Unruhen wegen einer neuen Steuer gab, zündete jemand ein Wachhaus an, aus Protest gegen die Willkür der Geheimpolizei. Oder eine wütende Meute verlangte die Freilassung ihres Gildemeisters. Oder hungernde Plantagenarbeiter besetzten die Aetherküchen. Worum es diesmal ging, konnte Liam nicht einmal genau sagen. Offenbar war ein Zeitungsartikel aufgetaucht, in dem unschöne Dinge über Lady Sarka standen, woraufhin die Spiegelmänner die verantwortlichen Drucker ins Gefängnis geworfen hatten. Zumindest hatte sein Vater so etwas erzählt. Allerdings war dieser schon seit einer ganzen Weile keine verlässliche Quelle mehr, was solche Dinge betraf.

Ein Soldat ging zu Boden, als ihn eine Flasche im Gesicht traf. Während man ihn wegtrug, klaffte eine Lücke in der Formation auf, und es kam zum Handgemenge zwischen Soldaten und Aufrührern. Weitere Bewaffnete eilten herbei und schlugen mit Knüppeln und Reitpeitschen auf die Menge ein.

Liam schluckte nervös. Wenn das so weiterging, nahm der Aufruhr ein blutiges Ende. Er konnte nur hoffen, dass niemand ihn in seinem Versteck bemerkte.

Er blickte zu den dunklen Wolken über den Dächern im Norden des Viertels. Zu allem Überfluss lief ihm die Zeit davon. Noch höchstens eine Stunde, dann brach das Gewitter los. Wenn er dann nicht zu Hause war, entging ihm das Geschäft des Monats.

Ein Pistolenschuss donnerte. Zwei berittene Soldaten erschienen auf der einen Seite des Platzes, zügelten ihre Pferde und feuerten in die Luft; Pulverdampf waberte über den Köpfen. Augenblicklich wich die Menge zurück und rannte die Straße hinauf. Die Fußsoldaten setzten ihr nach, angetrieben vom Gebrüll der beiden Reiter.

Liam hielt den Atem an. Als die Soldaten aus seinem Blickfeld verschwanden, beschloss er, die Gelegenheit zu nutzen, und schob seinen Karren im Laufschritt zum Platz. Die Aufrührer flohen ins unübersichtliche Gassengewirr Scotias. Vom Phönixturm näherten sich weitere Soldaten. Liam legte keinen Wert darauf, ihnen zu begegnen. Also lief er die Gasse neben der Taverne entlang und folgte ihr, bis er das Geschrei der Bewaffneten nicht mehr hörte.

Er befand sich irgendwo am Fuß des Hügels, der das Viertel beherrschte. Windschiefe Häuser drängten sich an den Hängen aneinander, mit Läden und Handwerksstuben im Erdgeschoss, geschnitzten Figuren und Gesichtern im verwitterten Dachgebälk und rostigen Wetterfahnen auf den Kaminen. Es roch nach Bratfett und Rauch. Leinen voller Wäsche hingen wie bunte Wimpel zwischen den oberen Stockwerken. Einige Leute standen in Gruppen beisammen und tauschten Neuigkeiten über den Aufruhr aus, doch im Großen und Ganzen gingen sie unbesorgt ihrem Tagewerk nach. Liam kam zu dem Schluss, dass keine Gefahr mehr drohte, und machte sich auf den Nachhauseweg.

Grollender Donner erinnerte ihn daran, dass die Zeit drängte. Die Aetherfässer stießen klappernd gegeneinander, während er seinen Karren den Hügel hinaufschob, der Kuppel entgegen, die in der Abendsonne glühte wie geschmolzenes Eisen. Als er die alte Sternwarte erreichte, lief ihm der Schweiß übers Gesicht. Er stellte den Karren ab, strich sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und drückte die Türklinke herunter. Verschlossen. Also war sein Vater immer noch nicht zu Hause. Seufzend streifte er das Lederband mit dem Schlüssel über den Kopf, sperrte die Tür auf und schob den Karren hinein.

In dem großen Raum im Erdgeschoss, an den ihre Schlafkammern und die kleine Küche grenzten, herrschte ein fürchterliches Durcheinander. In einer Ecke stapelten sich leere Aetherfässer, Kisten und Blitzbehälter aus Rauchglas; in einer anderen stand ein Tisch, der fast gänzlich unter Papierbergen verschwand. Liam bemühte sich nach Kräften, hin und wieder etwas Ordnung zu schaffen, aber sein Vater war ihm in dieser Hinsicht keine große Hilfe.

Und auch in jeder anderen Hinsicht nicht. Nach dem Tod von Liams Mutter hatte er sich sehr verändert. Sie war vor anderthalb Jahren ums Leben gekommen, als die Unruhen begannen; ein Kavalleriepferd hatte sie niedergetrampelt. Seitdem wurde er immer verschlossener, vernachlässigte seine Arbeit und blieb manchmal ganze Nächte lang fort, um weiß Gott was zu treiben. Auch Liam vermisste seine Mutter. Doch irgendwer musste sich schließlich darum kümmern, dass das Geschäft weiterlief. Obwohl er mit seinen siebzehn Jahren gewiss der jüngste Blitzhändler von ganz Bradost war.

Wieder rollte Donner über die Stadt, deutlich lauter diesmal. Liam schnappte sich ein Aetherfass, eilte die Stufen hinauf und entzündete die Gaslampe, die am oberen Treppenende bereitstand. Fahles Licht erfüllte die eiserne Kuppel. Liam entdeckte gleich zwei neue Rostflecken. Noch etwas, um das er sich bei Gelegenheit kümmern musste.

Sein Vater hatte das Teleskop, die Armillarsphäre und sämtliche Gerätschaften, die man normalerweise in einem Observatorium fand, vor vielen Jahren ausgebaut und durch eine andere Apparatur ersetzt, eine mannsgroße Röhre aus Rauchglas mit je einem Schwungrad aus Messing an beiden Enden. Liam schob das Aetherfass in die dafür vorgesehene Öffnung und legte einen Hebel um. Die beiden Schwungräder begannen sich zu drehen, als unsichtbarer, geruchloser Aether durch die Rohre der Apparatur strömte.

Der Blitzfänger erwachte zum Leben.

Liam hastete zur anderen Seite des kreisrunden Raums und betätigte eine Kurbel. Zahnräder und Kettenzüge setzten sich ratternd in Bewegung. Rost rieselte herab, während sich ein Segment der Kuppel öffnete und den Blick auf den Himmel freigab.

Die Sonne war nicht mehr zu sehen. Wolken reichten von Karst bis zum Meer und hingen so tief, dass die Spitze des nahen Phönixturms sie beinahe zu berühren schien.

Im Innern der grauschwarzen Masse brodelte und flackerte es. Liam lächelte voller Vorfreude. Ihm winkte eine reiche Ausbeute.

Er drehte eine andere Kurbel und fuhr den kupfernen Mast aus. Immer wenn ein Teilstück einrastete, klappten Querstangen von unterschiedlicher Länge auf, bis der Mast schließlich viele Fuß hoch in den Himmel ragte: ein bizarres Gebilde, das im Wind schwankte.

Liam schloss die Vorbereitungen keine Minute zu früh ab. Kaum hatte der Mast seine volle Länge erreicht, schlug der Blitz ein.

Blendendes Licht überstrahlte die Kuppel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Krachen. Liam taumelte vor Schreck zurück, verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Elmsfeuer loderte an den Mastspitzen und überzog Boden, Wände und Apparaturen mit einem gespenstischen blauen Glühen. Der Blitz zuckte in der Glasröhre wie eine Heerschar wilder Luftgeister und knisterte wütend.