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Er glaubte zu hören, dass Lady Sarka kaum merklich langsamer wurde. Hatte sie etwas gehört? Er machte sich darauf gefasst, dass sie jeden Moment neben ihm erscheinen und ihn mit ihren kalten Augen anblicken würde.

Sie ging weiter. Kurz darauf verschwand sie im Korridor, der zum Kuppelsaal führte.

Leise ließ Liam den angehaltenen Atem entweichen. Der Schreck saß ihm so tief in den Gliedern, dass er beschloss, hier zu warten, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er beide Arme um Vivana gelegt und sie eng an sich gedrückt hatte. Er wusste, er sollte sie loslassen, aber er konnte es nicht.

Sie blickte ihn an: dunkle Augen, so geheimnisvoll wie die Nacht. Ihr Gesicht war so nah bei seinem, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte. Er konnte fühlen, wie ihr Herz klopfte, noch heftiger als seines.

Bevor ihre Lippen einander berührten, flüsterte sie: »Nicht.«

Verwirrt sah er sie an. Er war sich so sicher gewesen, dass sie es auch wollte.

»Nicht hier.« Sie lächelte zögernd und wies ihn mit einem Nicken auf die Spiegelmänner auf der anderen Seite des Saales hin.

»Oh. Natürlich.«

Sie ergriff seine Hand, und lautlos eilten sie durch die Halle, durch stille Flure und Räume, zu seiner Kammer. Liam schloss die Tür hinter sich und sank mit dem Rücken gegen das Holz.

Sie waren in Sicherheit. Vorläufig wenigstens.

Vivana legte ihre Tasche ab. Dann stand sie reglos da, nichts als ein Schemen in der Dunkelheit seines Zimmers. Langsam trat sie zu ihm, hob die Hand, legte sie auf seine Wange, fuhr ihm durch das Haar.

Sie küsste ihn.

Über der Stadt brach das Gewitter los.

Lucien hetzte durch nachtschwarze Tunnel und halb eingestürzte Gewölbe, sprang über bodenlose Gräben und Haufen aus Schutt, zwängte sich durch verrostete Gitter, erklomm eiserne Leitern, hastete ausgetretene Stufen hinauf. Sein Wams war zerrissen, seine Haut brannte von unzähligen Schrammen und Kratzern, wo die Krallenhände der Ghule ihn verletzt hatten, bevor er ihnen entkommen war. Doch er hatte seine grausigen Verfolger noch lange nicht abgeschüttelt. Manchmal konnte er ihre glühenden Augen in der Finsternis sehen, konnte hören, wie sie krächzten und wisperten, voller Gier nach seinem Blut. Dann lief er noch schneller, obwohl ihn allmählich die Kräfte verließen.

Eine unterirdische Halle tat sich vor ihm auf. Rost und Moder bedeckten den Boden, die Wände glänzten feucht. Riesige Zahnräder und die Gestänge und Kessel alter Maschinen erhoben sich vor ihm, bizarre Gebilde aus Stahl und Messing, verbogen, geschmolzen und lange vergessen. Durch einen Deckenschacht fiel das Flackern eines Blitzes herein.

Lucien rannte eine Rampe hinauf und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen eine Tür, bis das Blech ächzend nachgab und er ins Freie stolperte. Regen klatschte ihm ins Gesicht. Sturmböen pfiffen um Kamine und Bleidächer.

Einen Steinwurf entfernt, auf einem Hügel, stand das Anwesen von Lady Sarka: ein schwarzer Kasten, der nur dann zu sehen war, wenn am Himmel ein Blitz zuckte.

Er kämpfte sich die Straße hinauf, zog sich an der Mauer hoch und sprang in den Garten. Geduckt lief er zum Gesindeflügel und verbarg sich hinter einem Strauch.

Zwei Spiegelmänner standen vor der Tür, reglos, als könnte ihnen das Unwetter nichts anhaben. Ihre Kutten flatterten im Wind.

Lucien blickte zum Fenster des Jungen. Zu nah. Wenn er an die Scheibe klopfte, würden die Wachen ihn bemerken. Er musste einen unauffälligeren Weg finden.

Er huschte zur anderen Seite des Gebäudetrakts und spähte in die Fenster, bis er ein Zimmer fand, in dem niemand schlief. Mit klammen Fingern löste er einen Stein aus dem gepflasterten Weg und schlug die Scheibe ein. Das Glas splitterte ohrenbetäubend, aber vielleicht waren Sturm und Donner laut genug, dass niemand es gehört hatte.

Er kletterte am Efeu empor und hielt sich am Sims fest, während er das Fenster öffnete. Flink schlüpfte er hinein und konzentrierte sich, bis er die Präsenz des Jungen klar und deutlich spürte.

Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.

32

Klauen und Zähne

Regen prasselte gegen das Fenster, begleitet vom Rauschen des Windes in Büschen und Baumkronen.

Jackon lag in seinem Bett und starrte in die Dunkelheit. Er war so müde, dass seine Augen brannten, aber schlafen konnte er nicht. Über eine Stunde schon wälzte er sich herum, ohne Ruhe zu finden.

Seit zwei Tagen konnte er an nichts anderes denken als an seine Begegnung mit Aziel und seine Flucht durch das gespenstische Schloss. Warum nur hatte er den Palast betreten? Wieso hatte er nicht auf Lady Sarka gehört und sich davon ferngehalten? Es war ein dummer Fehler gewesen, natürlich, ein leichtsinniges Versehen, das er allein seinem Übermut verdankte. Aber das half ihm auch nicht weiter. Vermutlich suchte der Herr der Träume bereits nach ihm, und alles, was er zu seinem Schutz besaß, war ein silberner Anhänger.

Jackon berührte den Drudenfuß unter seinem Schlafgewand. Der Palast ist sicher, sagte er sich. Sicherer als jeder andere Ort in Bradost. Überall stehen Spiegelmänner Wache. Und Corvas, Umbra und Amander sind auch noch da. Selbst wenn Aziel mich hier findet, er kann mir nichts antun.

Doch so sehr er sich auch an diesen Gedanken klammerte, besser fühlte er sich nicht.

Denn Aziel war beileibe nicht sein einziges Problem. Mit seinem Fehler hatte er alles zerstört, was er in den vergangenen Wochen erreicht hatte. Er konnte die Ausbildung nicht fortsetzen und seine neu erworbenen Kräfte nicht mehr benutzen, obwohl er gerade begonnen hatte, seine Macht zu genießen. Er war für Lady Sarka nutzlos geworden. Ein Wunder, dass sie ihn noch nicht zum Teufel gejagt hatte. Vermutlich gewährte sie ihm nur deshalb weiterhin Obdach und Schutz, weil sie hoffte, den Schaden, den er angerichtet hatte, irgendwie aus der Welt schaffen zu können. Allerdings zweifelte er nicht daran, dass sie die Geduld mit ihm verlieren und ihn in die Kanäle zurückschicken würde, sollte sich herausstellen, dass sie nichts für ihn tun konnte. Und dann wäre er wieder ein Schlammtaucher, ohne Heim, ohne Freunde, ohne Zukunft.

Der Trank, den er jeden Abend vor dem Zubettgehen einnehmen musste, trug auch nicht gerade zu seinem Wohlergehen bei. Die Substanz machte ihn unruhig und nervös, sodass er Stunden brauchte, um einzuschlafen. Und wenn er endlich einnickte, fühlte es sich an, als würde er in einem bodenlosen schwarzen Loch versinken. Am nächsten Morgen dann war er noch erschöpfter als am Abend zuvor; außerdem begannen seine Gedanken ein seltsames Eigenleben zu entwickeln.

Wurde er allmählich verrückt? Wie lange konnte ein Mensch ohne Träume auskommen, ehe er den Verstand verlor?

Jackon drehte sich auf die andere Seite. Schlaf endlich!, dachte er. Doch schon im selben Moment begann die Grübelei von Neuem.

Er setzte sich auf, als er ein Geräusch hörte. Es hatte sich angehört wie das Bersten von Glas. Vielleicht hatte der Sturm irgendwo ein Fenster beschädigt. Er beschloss nachzusehen. Das war allemal besser, als sich im Bett herumzuwälzen.

Er stand auf, schlüpfte in seine Kleider und zündete eine Kerze an.

Ein leises Knarren erklang. Im Licht der Flamme sah er, dass sich seine Tür öffnete. Jemand kam herein, ein Mann.

»Wer...«, begann Jackon und verstummte. Das Gesicht des Fremden war schwarz wie Ebenholz. Das lange, weiße Haar klebte nass und strähnig an seiner Haut.

Entsetzen packte ihn.

»Aziel«, ächzte er und taumelte zurück, stolperte über den Hocker und fiel zu Boden. Während der Eindringling näher kam, kroch er rückwärts, bis er gegen die Wand stieß.