»Geh weg«, flüsterte er. »Geh weg, oder ich rufe die Wachen.«
»Ich bin nicht Aziel«, knurrte der Weißhaarige. »Aber er wird bald hier sein. Jetzt steh auf. Wir haben nicht viel Zeit.«
Jackon konnte sich vor Grauen nicht bewegen. Wieso behauptete der Mann, er sei nicht Aziel, wenn er doch genauso aussah?
Der Fremde beugte sich über ihn, hob die Kerze auf und hielt sie sich vor das Gesicht. »Sieh mich an. Glaubst du mir jetzt?«
Jackon blinzelte. Langsam wurde ihm klar, dass der Mann Aziel nur sehr stark ähnelte, dank seiner schwarzen Haut und seines schlohweißen Haares. Aber das Gesicht war anders geschnitten, und er trug auch keinen Bart.
»Wer... wer bist du?«, stammelte er.
»Mein Name ist Lucien.«
Eine verschwommene Erinnerung huschte durch Jackons Gedanken. Er hatte diesen Fremden schon einmal gesehen - aber wo? Er wusste es nicht mehr. Vielleicht in einem Traum?
Als er keine Anstalten machte aufzustehen, wollte der Mann ihn an den Schultern packen, zog jedoch plötzlich seine Hände zurück, als würde ihn die Berührung schmerzen.
»Was ist das da an deinem Hals?«, fragte er scharf.
»Ich... verstehe nicht...«
»Ist das ein Talisman? Ein Drudenfußamulett?«
»Ja«, antwortete Jackon verwirrt.
»Gut. Behalte es an. Du wirst es noch brauchen. Und jetzt steh endlich auf.«
Mühsam kam er auf die Füße.
»Hör mir zu«, befahl der Mann. »Du musst sofort von hier verschwinden. Aziel sucht nach dir. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er im Palast ist.«
»Im Palast?«, echote Jackon. »Aber die Spiegelmänner...«
»Vergiss sie. Er hat eine Horde Ghule dabei, und sie sind hungrig. Die Spiegelmänner können sie vielleicht eine Weile aufhalten, aber mehr auch nicht.«
Jackon war kaum noch in der Lage, klar zu denken, denn ein einziger Gedanke übertönte alle anderen: Aziel hat mich gefunden, und er ist bereits auf dem Weg hierher! Als er jedoch hörte, wovon der Fremde sprach, verschwand seine Verwirrung schlagartig und wich neuem Grauen. »Ghule? Wieso Ghule?«
Der Mann gab keine Antwort. Stattdessen eilte er zur Tür. »Komm. Du musst dich irgendwo verstecken.«
Jackon rührte sich nicht von der Stelle. »Aber wir müssen die anderen warnen. Die Ghule werden sie sonst töten!«
»Dafür haben wir keine Zeit!«
»Das ist mir egal. Ich lasse nicht zu, dass Liam etwas geschieht.«
»Wer zum Teufel ist Liam?«, fragte Lucien.
Doch Jackon hatte sich bereits an ihm vorbeigeschoben und stürzte aus dem Zimmer.
Liam strich Vivana über das Haar und schloss die Augen, um sie abermals zu küssen, doch sie löste sich aus seiner Umarmung.
»Genug für heute«, sagte sie. »Wir haben noch etwas anderes zu tun, schon vergessen?«
»Wirklich?« Er grinste schief. »Hilf mir auf die Sprünge. Ich bin gerade etwas... durcheinander.«
»Nicht nur du. Trotzdem müssen wir das Buch fortschaffen. Hast du hier irgendwo eine Lampe oder so?«
Er holte die Kerze, die auf seinem Tisch stand, und zündete sie an. Flackerndes Licht erfüllte das Zimmer. Liam schaute Vivana an und stellte verwundert fest, dass er zum ersten Mal seit vielen Tagen etwas anderes als Schmerz empfand - dass er glücklich war. Die Trauer um seinen Vater, die Furcht und der Hass, die ihn seit Wochen quälten, waren nicht verschwunden, aber jetzt, in diesem Augenblick, wusste er, dass er die Kraft hatte, damit fertig zu werden. Vielleicht nicht morgen, vielleicht nicht einmal in einem Monat - aber irgendwann.
»Was ist?«, fragte Vivana, als sie seinen Blick bemerkte.
»Nichts. Ich habe nur nachgedacht.«
»Das geht alles ganz schön schnell, oder?«, erwiderte sie nachdenklich. »Ich meine, es ist gerade mal ein paar Tage her, dass wir uns das erste Mal gesehen haben.«
»Ja.« Er lachte leise.
»Hast du gewusst, dass es so kommen würde?«
»Irgendwie schon.«
»Ich auch. Seltsam, nicht wahr?«
Sie schwiegen.
»Ich glaube, wir haben einiges zu bereden, Liam Satander«, sagte Vivana schließlich.
»Sieht ganz so aus.«
»Was hältst du davon: zuerst das Buch und dann wir?«
»Einverstanden.« Liam setzte sich aufs Bett. »Gibst du mir deine Tasche? Ich will es mir noch mal ansehen.«
Sie setzte sich neben ihn und reichte ihm die Tasche, aus der er das Buch nahm. Schwer lag es auf seinen Knien, während er in den alten Seiten blätterte. Doch so sorgfältig er auch suchte, er fand nirgendwo eine Passage, die er lesen konnte.
»Wir müssen es von hier fortbringen«, sagte Vivana. »Wenn die Lady bemerkt, dass es weg ist, wird sie sicher zuerst im Palast danach suchen.«
»Ich bringe es morgen früh deiner Tante.«
»Warum erst morgen?«
»Die Ausgangssperre. Mir ist das Risiko zu groß, mit dem Buch erwischt zu werden.«
»Schau mal aus dem Fenster. Ich glaube nicht, dass sich bei diesem Wetter Soldaten auf den Straßen herumtreiben.«
Liam blickte nach draußen und sah nichts als heulende Schwärze, in der gelegentlich ein Blitz aufflackerte. Der Sturm schien immer stärker zu werden. »Also gut«, sagte er. »Gehen wir gleich. Allerdings befürchte ich, dass das ein ziemlich ungemütlicher Spaziergang...« Er unterbrach sich und runzelte die Stirn. »Hast du das gehört?«
»Was denn?«
»Da war ein Geräusch.«
»Sicher nur der Wind.«
»Nein. Es kam aus Jackons Zimmer.« Er rutschte auf dem Bett zur Wand und presste das Ohr dagegen.
»Jackon?«
»Ein Freund. Er arbeitet hier.« Liam hatte ein Rumpeln gehört, wie von einem umfallenden Möbelstück. Jetzt erklangen Stimmen. Was sie sagten, konnte er nicht verstehen, aber der Tonfall gefiel ihm nicht. Mit wem redete Jackon um diese Zeit? Liam überlegte, ob er nachsehen sollte. Jackon hatte sich in den letzten zwei Tagen sehr seltsam benommen. Vielleicht steckte er in Schwierigkeiten.
In diesem Moment flog die Tür auf. Fluchend zog Liam die Bettdecke über das Buch, bevor er sah, dass es Jackon war, der hereingestürzt kam. »Wieso klopfst du nicht an?«, fragte er mit einem Anflug von Ärger.
»Du musst sofort mitkommen!«, stieß Jackon hervor. »Ghule sind auf dem Weg hierher!«
»Ghule? Was redest du da?«
»Bitte, Liam! Wir haben nicht mehr viel Zeit!«
Der Rothaarige sah nicht aus, als erlaube er sich einen Scherz. Er war kreidebleich, seine Augen waren vor Entsetzen aufgerissen. »Du meinst das ernst, oder?«
»Ja!«
»Aber was haben sie hier zu suchen? Ich dachte, Ghule hausen unter der Erde...«
»Ich kann dir das jetzt nicht erklären!«
Liam blickte ratlos zu Vivana, die Jackon mit besorgter Miene musterte.
»Vielleicht tun wir besser, was er sagt«, murmelte sie und verstaute das Buch in ihrer Tasche.
Ein Fremder erschien neben Jackon, ein ungewöhnlich aussehender Mann mit schwarzer Haut und weißem Haar, der sich außerdem in einem schrecklichen Zustand befand. »Ich habe Geräusche gehört«, sagte er zu Jackon. »Ich glaube, Aziel ist in den Keller eingedrungen.«
»Wer ist das?«, wollte Liam wissen.
»Lucien«, antwortete der Rothaarige ungeduldig. »Können wir jetzt endlich gehen?«
Der Fremde wollte sich gerade abwenden, als er Vivana bemerkte. Er erstarrte und blickte sie entgeistert an.
»Kennen wir uns?«, fragte sie.
»Wie heißt du?«, brachte der Mann mit schwacher Stimme hervor.
»Vivana. Du bist ein Alb, nicht wahr?«
»Äh, woher -«
Das Klirren von Glas schnitt dem Fremden das Wort ab. Liam stürzte zum Fenster, und was er draußen erblickte, ließ ihm schier das Blut in den Adern gefrieren. Monströse Geschöpfe hetzten durch den Garten auf das Gebäude zu, Dutzende davon. Die beiden Spiegelmänner vor dem Gesindetrakt stellten sich ihnen mit schlagbereiten Rabenschnäbeln entgegen und wurden regelrecht überrannt.