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Umbra stieg die Treppe hinauf und verschwand in der Tür auf der Galerie. Während sich die Spiegelmänner in einem Halbkreis vor der Tür aufstellten, zogen sich Jackon und seine Gefährten in den hinteren Teil des Saales zurück.

Jackon zitterte am ganzen Leib. Zwar bewirkte die Anwesenheit von Corvas, Amander und so vielen Spiegelmännern, dass er sich einigermaßen sicher fühlte, aber das Grauen der vergangenen Minuten saß ihm so tief in den Gliedern, dass es ihn nicht so bald loslassen würde.

Lucien hatte die Augen zusammengekniffen. Offenbar machte ihm das helle Licht zu schaffen. »Warum hast du auf Umbra gehört?«, fragte er aufgebracht. »Sieh dich um. Nirgendwo ein Fluchtweg. Hier drin sitzen wir fest.«

Voller Unbehagen beobachtete Jackon das Portal. »Was hast du damit gemeint, dass Aziel Geschöpfe von großer Macht bei sich hat? Was sind das für Wesen?«

»Seth ist ein Incubus, ein Halbdämon, der über das Feuer gebietet. Fay und Whisper sind Vílen. Sie dienen Aziel, genau wie die Ghule.«

»Vílen?«

»Geister. Untote, die sich von menschlicher Lebenskraft ernähren.«

Jackon schauderte. »Glaubst du, Corvas und Amander werden mit ihnen fertig?«

»Ich schätze, das werden wir gleich sehen«, erwiderte Lucien düster.

Plötzlich fühlte sich Jackon so schwach, dass seine Beine nachzugeben drohten. Was hatte er nur angerichtet? Wie konnte es sein, dass ein kleiner Fehler ausreichte, sein Leben in einen Albtraum zu verwandeln, aus dem es kein Entkommen zu geben schien? Er wünschte, er hätte die Kanäle nie verlassen und wäre immer noch ein Schlammtaucher, der nichts von Träumen, Seelenhäusern und Geschöpfen wie Aziel wusste.

Liam kam zu ihm. »Erklärst du mir jetzt endlich, was hier vor sich geht?«, fragte er scharf. »Wer ist Aziel? Und was will er von dir?«

»Mich töten«, murmelte Jackon.

»Warum?«

»Weil ich die Träume störe.«

»Weil du was

Jackon blickte ihn schuldbewusst an. »Es gibt da ein paar Dinge, die du nicht über mich weißt.«

»Ja, diesen Eindruck habe ich allmählich auch.«

»Ich kann dir das nicht erklären. Ich musste der Lady mein Wort geben.«

»Der Lady? Was hat die Lady damit zu tun?«

»Ich bin nicht hier, um im Garten zu arbeiten. Das ist nur ein Vorwand. In Wirklichkeit bin ich ein Traumwanderer.«

Verständnislos starrte Liam ihn an. Bevor er nachfragen konnte, was Jackon damit meinte, erregten Geräusche vom Portal ihre Aufmerksamkeit. Die Spiegelmänner wichen einige Schritte zurück, als Flammen unter den Türflügeln hervorschossen und am Holz leckten. Rauch wallte auf.

»Das ist Seth!«, stieß Lucien hervor. »Versteckt euch!«

Die Flammen hüllten das Portal ein und verzehrten es binnen weniger Augenblicke. Eine Gestalt erschien in der lodernden Wand wie ein dunkler Engel, ehe das Feuer sich um sie sammelte und auf die Spiegelmänner zuschoss. Zwei der Maskierten wurden davon erfasst und wälzten sich brennend auf dem Boden. Dann sanken die Flammen herab, und die Ghulhorde quoll in den Saal, eine Masse aus verwesendem Fleisch und gelben Knochen. Die Untoten kreischten und schirmten ihre Augen vor dem Licht ab, doch ihre Furcht vor der Helligkeit währte nicht lange. Schon im nächsten Moment gewann ihre Gier nach lebendem Fleisch die Oberhand, und sie stürzten sich auf die Spiegelmänner.

Jackon machte sich hinter der Vitrine klein, zitterte noch heftiger als zuvor und wünschte, er müsste die grauenerregenden Schreie nicht hören.

Lucien verbarg sich hinter einem Wandschirm und beobachtete den Kampf - zumindest versuchte er es. Seine Augen waren für die Dunkelheit geschaffen; das Licht der zahlreichen Lampen ließ sie schmerzen, sodass er Mühe hatte, Einzelheiten zu erkennen.

Überall im Saal kämpften Spiegelmänner gegen die Übermacht der Ghule. Amander, dessen giftige Berührung gegen die Untoten wirkungslos war, hatte sich auf die Galerie zurückgezogen und lud eine Pistole. Corvas dagegen stand mitten im Getümmel, in jeder Hand ein Messer, stieß einem Ghul eine Klinge in die Augenhöhle, trat der Kreatur gegen den Brustkorb und wirbelte blitzschnell herum, um einer anderen den Hals aufzuschlitzen.

Seth und Aziel traten ungehindert durch die schwelenden Überreste des Portals, gefolgt von den Vílen. Lucien kniff die Augen zusammen. Die Verletzung, die er Seth beigebracht hatte, schien fast vollständig verschwunden zu sein. Lucien war nicht überrascht. Geschöpfen des Pandæmoniums, selbst wenn sie nur zur Hälfte Dämonen waren, konnte man mit gewöhnlichen Waffen lediglich Schmerzen zufügen - wirklich schaden konnte man ihnen damit nicht.

Seth wartete an der Pforte, während Aziel hinter den Pfeilern der Galerie verschwand und die bleichen Zwillinge mit flatternden Gewändern Richtung Kuppeldach zu schweben begannen, zweifellos, um nach dem Jungen Ausschau zu halten. Lucien fluchte leise. Das war genau die Situation, die er hatte vermeiden wollen: Sie saßen im Saal fest, ohne jede Fluchtmöglichkeit. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass Aziel in der Welt diesseits der Mauern des Schlafes kaum Macht besaß. Zwar konnte er auch hier Träume heraufbeschwören, aber anders als in der Stadt der Seelen waren diese zu schwach, um in einem Kampf von Nutzen zu sein. Aziel musste sich auf seine Helfer und seine Körperkraft verlassen. Damit war er immer noch ein schrecklicher Gegner, aber wenigstens einer, gegen den Lucien etwas ausrichten konnte.

Geduckt hastete er zu seinen drei Schützlingen, die sich hinter einer Vitrine versteckten. Als das Mädchen ihn anblickte, verspürte er abermals einen Stich in seinem Innern, und ungeachtet der Gefahr, in der sie schwebten, konnte er nicht anders, als sie kurz anzustarren. Sie sah nicht genauso aus wie Caitlin; ein paar Kleinigkeiten waren anders: Das Haar war etwas heller, der Mund etwas breiter, das Gesicht ein klein wenig feiner geschnitten. Dennoch war die Ähnlichkeit so groß, dass er Vivana bei ihrer ersten Begegnung einen schmerzhaften, ungewissen Augenblick lang für sie gehalten hatte.

»Was machen wir jetzt?«, fragte das Mädchen.

Sogar die Stimme, dachte er und kämpfte gegen die Flut der Erinnerungen an, die in ihm aufstieg. Nicht jetzt. Wenn sie heil hier herauskommen wollten, brauchte er einen klaren Kopf. »Wir müssen den Saal verlassen, bevor Aziel euren Freund findet. Vielleicht können wir uns das Chaos zunutze machen und fliehen, ohne dass er etwas bemerkt.«

»Was ist mit dem Kerl an der Tür?«, fragte der Junge, der Liam hieß.

»Ich versuche, Seth abzulenken«, antwortete Lucien. »Hört zu: Wir laufen unter der Galerie zur anderen Seite des Saales. Haltet euch im Schutz von Stellwänden und Möbeln, damit Fay und Whisper euch nicht sehen. Wenn ich euch ein Zeichen gebe, lauft ihr zur Tür.«

Der rothaarige Junge wandte ihm sein schreckensbleiches Gesicht zu. Lucien hatte inzwischen herausgefunden, dass er Jackon hieß. »Warum bleiben wir nicht hier? Vielleicht schaffen es Corvas und Amander ja, Aziel zu vertreiben.«

»Das ist zu riskant. Solange du in seiner Nähe bist, kann er deine Präsenz spüren. Du musst dich anderswo verstecken, am besten weit weg von hier. Vielleicht verliert er dann deine Spur. Einverstanden?«

Jackon nickte; dann sah er ihn fragend an. »Warum hilfst du mir? Du kennst mich doch überhaupt nicht.«

»Lange Geschichte«, erwiderte Lucien und lief los.

Bevor Vivana Liam und den anderen folgte, warf sie einen letzten Blick zu den beiden bleichen Frauen, die über den Köpfen der Kämpfenden schwebten, umwogt von ihren leichentuchartigen Gewändern und ihrem violetten Haar. Vílen - allmächtiger Tessarion!, dachte sie mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination. Seit sie ein Kind war, hatten ihr die Manusch von diesen und anderen Bewohnern der Schattenwelt erzählt, von Alben wie Lucien und Aziel und Incubi wie Seth, und sie hatte nie daran gezweifelt, dass all diese Geschöpfe wirklich existierten. Doch sie mit eigenen Augen zu sehen, mit ihnen zu reden, vor ihrer übernatürlichen Macht zu zittern war eine Erfahrung, auf die keine Geschichte sie je vorbereitet hatte. Und sie hatte immer gedacht, sie wüsste über derartige Dinge Bescheid. Gar nichts wusste sie. Sie konnte froh sein, wenn sie mit heiler Haut davonkam, um Livia von ihrer Begegnung mit der Schattenwelt zu berichten.