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Die Ledertasche an ihren Bauch gepresst, huschte Vivana unter der Galerie entlang und verbarg sich hinter Säulen und Wandschirmen, während wenige Schritte entfernt der Kampf tobte.

Vor ihr wurde eine Stellwand umgerissen, als ein Spiegelmann dagegenprallte und zu Boden stürzte. Vivana blieb so ruckartig stehen, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Ein Ghul sprang den Liegenden an, riss dessen Maske herunter und schlug seine Zähne in den Hals des Homunculus.

Voller Grauen starrte Vivana den Untoten und sein Opfer an, bevor ihr ein Sekundenbruchteil später klar wurde, in welcher Gefahr sie sich befand. Sie rannte los, doch der Ghul hatte sie bereits bemerkt. Er sprang von dem toten Homunculus herunter und fauchte.

Vivana schwang ihre Tasche und erwischte den Ghul am Kopf. Das Buch darin war so schwer, dass das Geschöpf zu Boden geschleudert wurde, allerdings rappelte es sich sofort wieder auf, ein böses Glühen in den Augen.

»Du hast es nicht anders gewollt«, sagte sie und holte abermals mit ihrer Tasche aus. Der Ghul sprang vor, bekam den Lederriemen zu fassen und riss ihr die Tasche aus den Händen. Sie rutschte über den Boden und verschwand zwischen den Füßen der Kämpfenden.

»Nein!«, schrie Vivana. Gleichzeitig schlug der Ghul nach ihrem Gesicht, sie zog den Kopf ein und entging den messerscharfen Krallen um Haaresbreite. Der Untote holte zu einem zweiten Klauenhieb aus, doch bevor er ihn ausführen konnte, tauchte hinter ihm ein Spiegelmann auf und zerschmetterte ihm mit seinem Rabenschnabel den Schädel.

Vivana wusste, dass sie nur durch pures Glück dem Tod entronnen war, aber sie wartete nicht, bis sie sich von dem Schreck erholt hatte. Kaum war der Ghul zusammengebrochen, reckte sie den Kopf und hielt nach der Tasche Ausschau. Sie musste sie finden. Wenn sie das Buch verlor, hatten Liam und sie all die Gefahren umsonst auf sich genommen, würde Liam nie erfahren, wonach sein Vater gesucht hatte.

Jemand packte sie am Arm. »Was machst du hier?«, stieß Lucien hervor. »Weiter, bevor dich die Vílen entdecken!«

»Nicht! Die Tasche -«, keuchte sie, doch der Alb zog sie bereits fort.

Sie hasteten zu einem umgefallenen Tisch in der Nähe der Tür, hinter dem Liam und Jackon kauerten.

»Wo ist die Tasche?«, fragte Liam, als Vivana und Lucien neben ihnen in Deckung gingen.

»Ein Ghul hat sie mir weggerissen.«

Er fluchte.

»Es tut mir leid«, sagte sie verzweifelt. »Ich konnte nichts machen. Es ging zu schnell.«

»Wo hast du sie verloren?«

»Irgendwo dahinten, wo die Stellwand umgefallen ist.«

Liam spähte am Tisch vorbei zu der Stelle. »Wartet hier auf mich.«

Als er loslaufen wollte, hielt Lucien ihn fest. »Du bleibst hier«, sagte er scharf. »Wir müssen so schnell wie möglich fliehen.«

»Ohne die Tasche gehe ich nirgendwo hin«, erwiderte Liam, riss sich los und hastete davon.

Jackon beobachtete, wie sein Freund in den Schatten unter der Galerie verschwand.

»Was ist denn so wichtig an dieser Tasche?«, fragte er das Mädchen, doch sie starrte Liam hinterher und hörte ihn nicht.

»Ich muss ihm helfen«, sagte sie und setzte ihm nach.

»Vivana, nicht!«, rief Lucien und schlug vor Wut mit der Faust auf den Boden. »Verdammt!«

Jackon blickte ihn ratlos an. »Und jetzt?«

»Wir warten«, fauchte der Weißhaarige. »Was bleibt uns schon anderes übrig?«

Jackon zog den Kopf ein und beobachtete mit klopfendem Herzen den Kampf. Das Gefecht hatte sich inzwischen in die Mitte des Saales verlagert, und es war immer noch nicht abzusehen, wer den Sieg erringen würde. Zwar hatten die Spiegelmänner die Hälfte der Ghule erschlagen, doch sie hatten einen hohen Preis dafür gezahlt: Viele Maskierte waren gefallen. Im Tod verwandelten sich ihre Körper in den Staub, aus dem sie erschaffen worden waren.

Schüsse peitschten durch die Halle, als Amander von der Galerie aus auf die Vílen feuerte. Eine der bleichen Frauen traf er an der Schulter, woraufhin sich das Geschöpf mit vor Hass verzerrtem Gesicht auf ihn stürzte. Die Víla landete auf der Brüstung und schlug mit ihren Krallen nach Amander, der seine Pistole weggeworfen hatte und dem Angriff behände auswich. Mit seiner Hand streifte er die Geisterfrau am Arm, doch seine Berührung, die Menschen den Tod brachte, schien auf sie keine Wirkung zu haben. »Corvas!«, brüllte er, nachdem ein Klauenhieb sein Hemd zerfetzt hatte und er verzweifelt zurückwich.

Jackon entdeckte Corvas auf der Treppe der Galerie. Der Anführer der Spiegelmänner hastete die Stufen hinauf, warf ein Messer und verletzte die Víla am Arm. Es war keine tiefe Wunde, kaum mehr als eine Schramme, doch sie bewirkte, dass das Geschöpf von Amander abließ und gemeinsam mit ihrer Schwester auf Corvas zuschwebte. Corvas blieb stehen, blickte die Vílen stechend an und breitete die Arme aus. Genau wie beim Kampf gegen die Attentäter gab sein Mantel einen Krähenschwarm frei, der auf die Geisterfrauen zuschoss. Die Vílen verschwanden in einer Wolke aus Vögeln, die mit ihren Schnäbeln auf sie einhackten. Ihre qualvollen Schreie wurden vom Kreischen der Krähen überlagert.

Jackon schluckte trocken. Es war nun schon das zweite Mal, dass er Zeuge von Corvas’ bizarren Kräften wurde, doch das Entsetzen, das er beim Anblick des Krähenschwarms verspürte, war deswegen keineswegs geringer.

»Jackon«, sagte Lucien und machte ihn auf Seth aufmerksam. Der Incubus zückte einen Dolch, dessen Klinge in Flammen gehüllt war, und erwartete den Angriff eines Spiegelmanns, der gerade einen Ghul niedergestreckt hatte und auf ihn zukam. »Wenn sie anfangen zu kämpfen, läufst du so schnell du kannst zur Tür.«

»Was ist mit Liam?«

»Ich kümmere mich um ihn und Vivana.«

»Aber ich will nicht ohne sie gehen.«

Lucien ergriff seinen Arm und umschloss ihn so fest, dass es schmerzte. »Hör mir zu, Jackon«, sagte er, und in seinen Augen glühte ein kaltes Feuer. »Du läufst jetzt auf der Stelle zur Tür. Das ist vielleicht deine letzte Chance, also benimm dich nicht wie ein Narr.«

»Einverstanden«, stammelte Jackon eingeschüchtert.

Als Lucien ihn losließ, richtete er sich auf und sah sich um. Seth kämpfte mit dem Spiegelmann, in der Nähe hielten sich keine Ghule auf. Die Vílen waren vernichtet; was die Vögel von ihnen übrig gelassen hatten, lag als blutiger Haufen auf dem Boden. Corvas’ Krähenschwarm kreiste wie ein schwarzer Strudel unter der Kuppel.

Der Weg zur Tür war frei.

Jackon sprang über den Tisch und rannte in Richtung des Portals.

Da entdeckte Aziel ihn.

Der Herr der Träume rang mit einem Spiegelmann, packte den Maskierten und warf ihn gegen einen Pfeiler. Sein Blick fand Jackon, der vor Schreck stehen blieb und Hilfe suchend zu Lucien schaute.

»Lauf!«, schrie der Weißhaarige.

Doch Jackon war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Alles, was er tun konnte, war dazustehen, während Aziel auf ihn zukam. Er empfand kein Entsetzen, nicht einmal einen Hauch von Angst, sondern lediglich ein erdrückendes Gefühl der Sinnlosigkeit. Warum sollte er fliehen? Er konnte nicht entkommen. Aziel war der Herrscher der Träume, ein Wesen von unvorstellbarer Macht. Er würde ihn finden, wohin er auch ging.

Lucien kam zu ihm gelaufen, hob den Rabenschnabel eines toten Spiegelmanns auf und stellte sich schützend vor ihn.

»Überlass mir den Jungen, und ich lasse dich gehen«, sagte Aziel.