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»Nein.«

Aziels Augen verengten sich zu Schlitzen - und er griff an. Flink wich Lucien aus, wirbelte herum, sodass er hinter seinen Gegner gelangte, und schlug zu. Aziel brüllte, als sich der Eisendorn des Rabenschnabels in seine Schulter grub. Er versetzte Lucien einen Schlag, der den Weißhaarigen gegen die Wand schleuderte, wo er benommen liegen blieb.

Jackon beobachtete das Geschehen mit aufgerissenen Augen. Mit einem Mal löste sich die Lähmung, die von ihm Besitz ergriffen hatten, und Furcht stieg in ihm auf, heftiger als je zuvor. Aziel versperrte ihm den Weg zur Tür, weshalb er zurück zur Galerie rannte. Als er aus den Augenwinkeln sah, dass Aziel dicht hinter ihm war und nach ihm greifen wollte, schlug er einen Haken, rutschte aus und prallte gegen den Tisch.

Dunkles Blut tränkte Aziels Gewand, und sein Gesicht war vor Schmerzen verzerrt. Jackon kroch rückwärts, doch er war nicht schnell genug. Der Herr der Träume streckte die Hände nach ihm aus, und genau wie in seinem Traum spürte Jackon die uralte Macht, die ihn wie eine Aura umgab.

Mit einem wütenden Schnauben zuckte Aziel zurück.

Das Amulett!, durchfuhr es Jackon. Er kann mich nicht berühren! Er nestelte an seinem Hemdkragen, bis er den Drudenfuß zu fassen bekam. Mit zitternder Hand hielt er den silbernen Stern vor sein Gesicht. Furcht flackerte in Aziels Augen auf.

»Glaubst du, das rettet dich, Traumwanderer?«, knurrte er. »Seth, töte ihn.«

Der Incubus hatte den Spiegelmann niedergestochen und kam mit dem flammenden Dolch in der Hand näher. Irgendwie gelang es Jackon aufzustehen. Doch bevor er loslaufen konnte, hielt Seth ihn fest.

Die Augen des Halbdämons loderten. Er hob den Dolch, und die Klinge bohrte sich in Jackons Leib.

Liam versteckte sich hinter einer Säule und beobachtete das Chaos aus Ghulen und Spiegelmännern, die miteinander kämpften. Wo war die verdammte Tasche? Eben noch hatte er sie gesehen, aber im gleichen Moment hatte ein Spiegelmann, der vor einem Gegner zurückwich, dagegengetreten, sodass sie tiefer ins Getümmel gerutscht war.

Er lief zu einer umgefallenen Vitrine am Rand des Kampfgeschehens und versteckte sich dahinter, in der Hoffnung, von hier aus besser sehen zu können.

Der Schrank erzitterte unter einem Schlag, als ein Ghul dagegenprallte. Ein Spiegelmann sprang herbei und hieb auf den Untoten ein, ehe dieser sich aufrappeln konnte. Dadurch klaffte eine Lücke in den Kämpfenden auf, sodass Liam die Tasche entdeckte.

Sie lag in der Mitte des Saales, wo das Gefecht am heftigsten tobte.

Er atmete einmal tief ein und aus, bevor er sich ins Getümmel stürzte. Das Geschrei der Ghule war ohrenbetäubend. Liam schlug Haken, wich Körpern aus, entging nur knapp einem herabsausenden Rabenschnabel und spürte eine Kralle an seinem Hemd zerren. Er rammte dem Untoten den Ellbogen ins Gesicht, riss sich los und bekam die Tasche zu fassen. Er presste sie sich an die Brust, während er geduckt zur anderen Seite des Saales rannte, wo er hinter einem Pfeiler in Deckung ging.

Geschafft! Als sich sein Atem etwas beruhigte, spürte er ein Brennen an seiner Seite. Wo der Ghul ihn erwischt hatte, war sein Hemd zerrissen und blutig, aber zu seiner Erleichterung sah es schlimmer aus, als es war. Die Krallen hatten seine Haut zerkratzt, mehr nicht.

Plötzlich begannen sich die Wunden zu schließen. Binnen weniger Sekunden verheilten sie, bis nicht einmal mehr die kleinste Narbe zu sehen war. Verblüfft starrte Liam die unversehrte Haut an. Das javva, natürlich. Der eigentliche Zweck des Elixiers war, Verletzungen zu heilen. Allerdings hätte er nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde.

Liam überlegte, wie er zu Vivana und den anderen zurückkehren konnte, ohne sich allzu sehr in Gefahr zu begeben. Am besten lief er durch den vorderen Teil des Saales, wo kaum noch gekämpft wurde.

Er spähte an der Säule vorbei und sah, wie Jackon niedergestochen wurde.

Seth stieß ihm seinen brennenden Dolch in die Brust, genau unter dem Schlüsselbein. Der Rothaarige schrie vor Schmerz auf und brach zusammen.

Liam war, als würde sein Herz einen Schlag aussetzen. Der Incubus hatte Jackon umgebracht, ihn einfach erstochen, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Dann jedoch sah er, dass sein Freund sich bewegte und davonzukriechen versuchte. Allerdings war er viel zu schwach, um sich gegen Seth zur Wehr setzen zu können. Der Halbdämon zog ihn an den Haaren auf die Knie.

Fieberhaft blickte Liam sich um.

Er brauchte eine Waffe, irgendetwas, mit dem er Seth aufhalten konnte.

Die Pistole! Fahrig öffnete er die Tasche. Vor einigen Jahren hatte ihm sein Vater beigebracht, mit Schusswaffen umzugehen, allerdings war er nicht gerade ein Meisterschütze. Aber vielleicht gelang es ihm, den Incubus lange genug in Schach zu halten, damit sich Jackon in Sicherheit bringen konnte.

Als Seth gerade seine Klinge zu Jackons Kehle führte, stand Liam auf und schoss.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Pistole solch einen enormen Rückstoß besaß. Sein Arm wurde nach oben gerissen, als der Schuss durch den Saal donnerte, und er taumelte gegen die Säule.

Seth ließ den Dolch fallen und wurde von der Wucht des Treffers zu Boden geworfen. Für einen flüchtigen Moment hatte Liam sich gefragt, ob eine Pistolenkugel einem Dämon überhaupt etwas anhaben konnte, weshalb ihn die Wirkung mehr als überraschte. Schwerfällig richtete Seth sich auf. Aus einer Wunde an seinem Oberarm quoll dampfendes Blut.

Er starrte Liam an, und aus seinen Augen sprach blanker Hass.

Erst langsam, dann immer schneller, kam er näher. Flirrende Hitze umgab ihn und ließ seine Augen glühen wie flüssiges Feuer.

Liam schluckte. Er hatte noch einen Schuss. Er hob die Pistole, zielte und drückte ab.

Als Vivana zu der umgefallenen Stellwand kam, konnte sie Liam nirgends entdecken. Sie vermutete, dass er sich ins Kampfgetümmel gestürzt hatte, um die Tasche zu holen, doch auch inmitten der Ghule und Spiegelmänner war er nicht zu sehen. Zum hundertsten Mal verfluchte Vivana sich dafür, dass sie die Tasche verloren hatte. Warum war sie nicht vorsichtiger gewesen? Wenn Liam sich in Gefahr befand, war das allein ihre Schuld.

Ein Schuss erklang. Sie reckte den Kopf und sah Liam auf der anderen Seite der Halle stehen, in der Hand die Pistole ihres Vaters.

Die Kämpfenden versperrten ihr die Sicht, und sie konnte nicht erkennen, warum er geschossen hatte und auf wen. Sie rannte ein Stück zurück, um besser sehen zu können. Jackon lag auf dem Boden und wimmerte vor Schmerz. Corvas und Amander eilten die Treppe hinunter, um ihm zu Hilfe zu kommen.

Seth lief in Liams Richtung. Er war verletzt; heißes Blut tränkte seinen roten Anzug.

Grauen erfasste Vivana, als sie begriff, was Liam getan hatte. Seth war ein Incubus, ein Geschöpf des Pandæmoniums. Ein Sterblicher, der ihm Schaden zufügte, musste mit schrecklichen Qualen rechnen, mit dem Tod und Schlimmerem. Doch statt zu rennen, wie er noch nie gerannt war, zielte Liam ein zweites Mal auf den Halbdämon.

»Nicht!«, schrie Vivana und lief durch den Saal, aber sie kam zu spät. Liam schoss und traf Seth an der Schulter, was den Incubus taumeln und vor Schmerz und Zorn aufschreien ließ. Siedend heiße Luft schlug Vivana entgegen, sodass sie kaum noch atmen konnte. »Liam, lauf«, krächzte sie, doch entweder hörte er sie nicht oder die Hitze schwächte ihn so sehr, dass er sich nicht vom Fleck bewegen konnte. Er hatte die Pistole fallen lassen und stützte sich benommen gegen eine Säule.

Seth blieb stehen; sein verletzter Arm hing steif und nutzlos herab. »Du wagst es, mich herauszufordern?«, fauchte er, und sein Zorn sandte eine neue Hitzewoge durch den Saal, so heftig diesmal, dass Vivana zu Boden fiel. Auch Liam war gestürzt. Mit angstgeweiteten Augen versuchte er, sich aufzurichten, aber er schaffte es nicht.

Furcht und Hitze lähmten Vivana, sodass sie hilflos mit ansehen musste, was sich wenige Schritte von ihr entfernt abspielte. Die Luft flimmerte und flirrte, eine wabernde Säule, die Liam und Seth umgab. Alles, was sich darin befand, Liam, der Incubus, tote Ghule und Spiegelmänner, wirkte plötzlich seltsam verschoben, wie ein Bild in einem zersplitterten Spiegel. Vivana war, als würde der Saal zeitweise verschwinden, überlagert von Ansichten aus einem anderen Gebäude, von uralten Säulen, Mauern und Treppen, die unbeständig flackerten.