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»Ich brauche keine Droschke.« Vivana wollte allein sein und zu Fuß gehen. Sie musste nachdenken.

»Bist du sicher? Du wirst völlig durchnässt sein, bevor du zu Hause bist. Und vielleicht treiben sich immer noch Ghule in den Gassen herum.«

»Mir passiert schon nichts.«

»Gut. Wie du willst. Falls man dir wegen der Ausgangssperre Schwierigkeiten macht, sagst du ›Basilisk‹. Das ist das Losungswort. Damit wird man dich gehen lassen.«

Vivana nickte. Dann trat sie hinaus in den Regen.

»Eine Frage noch«, sagte Umbra. »Wie bist du an den Wachen vorbeigekommen?«

»Welche Wachen?«

»Du hast doch die Herrin gehört. Die Spiegelmänner haben den Befehl, niemanden in den Palast zu lassen. Du hättest gar nicht hier sein dürfen.«

Vivana strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. »Euer Misstrauen kennt keine Grenzen, was?«

»Beantworte meine Frage.«

»Ich bin über die Mauer geklettert. Liam hat mir dabei geholfen.«

»Und wie bist du ins Haus gelangt?«

»Durch das Fenster von Liams Zimmer.«

»Ohne dass die Spiegelmänner etwas bemerkt haben?«

»Sieht ganz so aus.«

»Ziemlich viel Aufwand, nur um deinen Cousin zu besuchen«, meinte die Leibwächterin.

Vivana schwieg.

»Wäre es nicht einfacher gewesen, ihr hättet euch anderswo getroffen? Stell dir vor, man hätte euch erwischt. Ihr hättet in große Schwierigkeiten kommen können.«

»Man hat uns aber nicht erwischt.«

»Und genau das ist es, was mich wundert«, sagte Umbra. »Die Spiegelmänner standen vor jedem Zugang. Und ihnen entgeht nichts.«

»Es war dunkel. Und es hat gestürmt. Da war es nicht besonders schwer, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen.«

»Ja. Ich schätze, so ist es gewesen, nicht wahr?«, erwiderte die Leibwächterin. Vivana sah ihr jedoch an, dass diese Erklärung sie nicht restlos überzeugte.

»Darf ich jetzt gehen?«

Umbra nickte. »Sei vorsichtig.«

Vivana schlurfte mit eingezogenem Kopf durch den Regen und spürte, dass die Leibwächterin ihr nachblickte, bis die Finsternis sie vollständig einhüllte.

33

Entscheidungen

Es war ein heftiger, aber kurzer Sturm gewesen. Als Vivana den Palast verließ, blitzte und donnerte es nicht mehr. Auch der Wind hatte nachgelassen. Regen fiel monoton auf Dächer und Pflastersteine, legte einen trüben Schleier um die Gaslaternen und gurgelte in den vergitterten Abflussschächten.

Sie wanderte durch die Gassen, ohne sich darum zu kümmern, dass sie nass bis auf die Haut war und die Kleidung klamm an ihrem Körper klebte. Ziellos streifte sie durch die Altstadt. Sie wollte nicht nach Hause oder zu ihrer Tante gehen. Sie war zu müde, um endlose Fragen und Vorwürfe über sich ergehen zu lassen.

Hatte Umbra recht? War Liam tot?

Wieder und wieder sah sie vor sich, wie das gleißende Licht alles überstrahlte, und jedes Mal wurde ihre Verzweiflung größer. Wenn sie ihm nur geholfen hätte... Aber sie hatte nur dagestanden, gelähmt vor Furcht und unfähig, irgendetwas zu tun.

Sie bemerkte nicht, dass sie weinte.

Am Straßenrand, unter dem Vordach einer dunklen Taverne, saß eine Gestalt. Sie stand auf und trat ins Laternenlicht, als Vivana näherkam.

»Wieso bist du einfach verschwunden?«, fragte sie.

»Corvas und Umbra sind nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen«, antwortete Lucien. »Deshalb bin ich untergetaucht, als der Kampf vorüber war.«

Er sah schrecklich aus. Sein Wams war zerrissen, seine dunkle Haut von Kratzern und Schrammen übersät. Sein weißes Haar klebte klatschnass an seinem Schädel.

»Jackon ist schwer verletzt.«

»Ich weiß. Aber mit ein wenig Glück kommt er durch. Was ist mit Aziel passiert?«

»Seth hat ihn weggebracht.«

Lucien nickte, als hätte er sich dergleichen schon gedacht.

»Wo sind sie hingegangen?«, fragte Vivana.

»Aziel hat sich vermutlich in seinen Palast zurückgezogen, um sich von seinen Wunden zu erholen. Falls er sich je davon erholt. Diese Niederlage hat ihn sehr geschwächt.«

»Und Seth?«

»Er ist im Pandæmonium, schätze ich. Hoffen wir, dass er für immer dort bleibt.«

Vivana stand eine Weile reglos da, während der Regen auf sie niederprasselte. Schließlich sagte sie: »Liam ist fort.«

»Ich habe es gesehen«, erwiderte Lucien.

»Was hat Seth mit ihm gemacht?«

»Liam hat ihn schwer verwundet. Dafür hat er sich gerächt.«

»Umbra hat gesagt, er ist tot.«

»Es ist noch schlimmer, fürchte ich.«

»Schlimmer?«, wiederholte sie leise.

»Seth hat ein Tor geöffnet und ihn hineingeschleudert.«

»Was heißt das?«

»Liam ist im Pandæmonium«, sagte der Alb.

Vivana schwieg lange. Sie dachte an die Geschichten der Manusch, die sich um das Pandæmonium rankten, diesen schrecklichen Ort jenseits von Zeit und Raum, wo Dämonen hausten und die Seelen jener quälten, die so böse und verdorben waren, dass der Himmel sich weigerte, sie nach ihrem Tod aufzunehmen. Es sei eine Welt voller Feuer, Lügen und Hass, sagten die Manusch. Und nun irrte Liam darin umher, allein. »Aber er lebt.«

»Ja... noch.«

»Was geschieht, wenn er stirbt?«

»Dann wird er zu einer verdammten Seele.«

»Obwohl er ein guter Mensch ist?«

»Das Pandæmonium kennt keine Gerechtigkeit. Wer durch seine Pforten tritt, ist verloren. Gleichgültig, ob er edel oder schlecht war.«

Vivana senkte den Blick. Lucien hatte recht: So ein Schicksal war noch schlimmer als der Tod.

Sie hob den Kopf, schaute ihn an. »Was muss ich tun, um ihn zu retten?«

»Du kannst nichts tun«, sagte der Alb. »Es gibt keine Hoffnung mehr für ihn.«

»Aber es wurden doch schon Menschen aus dem Pandæmonium gerettet«, beharrte sie. »Ich habe gehört, dass es Wege dorthin gibt. Verborgene Tore.«

»Das ist richtig.«

»Wie kann ich sie finden?«

Lucien seufzte. »Das ist verrückt. Es sind schon mächtige Zauberer und Krieger daran gescheitert, ins Pandæmonium einzudringen, sie sind gestorben oder haben noch viel Schrecklicheres erlitten. Und du - du bist nur ein Mädchen.«

»Ich habe Mut. Ich fürchte mich nicht vor Dämonen und verdammten Seelen.«

»Das solltest du aber.«

»Sag mir, wo das Tor ist. Bitte.«

Lucien musterte sie mit seinen schimmernden Augen. »Dir liegt viel an diesem Jungen, was?«

Sie nickte.

»Liebst du ihn?«

»Ja«, antwortete Vivana, und als sie es aussprach, wusste sie, dass es die Wahrheit war.

»Bist du dir ganz sicher? Im Pandæmonium lauern Gefahren, die so entsetzlich sind, dass du sie dir nicht vorstellen kannst. Der kleinste Zweifel in deinem Herzen kann dir zum Verhängnis werden.«

»Ich bin mir sicher«, sagte sie.

»Liebe allein genügt vielleicht nicht.«

»Ich muss es trotzdem versuchen.«

Lucien nickte. »Wenn du wirklich dazu entschlossen bist, sage ich dir, wo das Tor versteckt ist - unter einer Bedingung.«

»Welche?«

»Ich werde mit dir kommen.«

»Du willst mich ins Pandæmonium begleiten?«, fragte Vivana zögernd.

»Du wirst einen Führer brauchen. Jemanden, der Dämonen und ihre Heimtücke kennt.«

»Eben hast du noch gesagt, was ich vorhabe, wäre verrückt.«

»Das ist es auch, und ich bin ein Narr, weil ich dabei mitmache. Aber ich schätze, ich kann nicht anders«, sagte der Alb mit einem seltsamen Lächeln.

»Warum?«

»Du erinnerst mich an jemanden. An eine Person, an der mir einst sehr viel lag.«