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Liam rappelte sich auf und legte einen Hebel um. Der Blitz wurde in einen der Rauchglasbehälter im Sockel der Apparatur gesaugt und bildete immer neue Verästelungen, während er vergeblich gegen sein Gefängnis ankämpfte.

Flackernder Lichtschein lag auf Liams Gesicht, als er seinen Fang betrachtete. Ein guter Blitz, der ihm in der Aetherbörse mindestens zehn Schilling einbrachte. Wenn es so weiterging, konnte er heute Abend eine ansehnliche Summe verdienen.

Er kam nicht zum Ausruhen, denn das Gewitter brach nun mit ganzer Macht los. Er zog eine Brille mit abgedunkelten Gläsern auf und hielt sich neben der Apparatur bereit. Trotz des eingeölten Ledermantels, den er sich überstreifte, war er binnen kurzer Zeit klatschnass. Regen peitschte über die Dächer. Rostige Tropfen rannen an der Innenseite der Kuppel herab, das Wasser bildete Pfützen auf dem Steinboden und gurgelte in den Öffnungen der Abflussrohre.

Vor ihm erstreckte sich Scotia, Häuser und Giebel nicht mehr als grauschwarze Konturen hinter den Regenschleiern. Überall schlugen Blitze ein, in Erker, Kamine und Glockentürme, und dann flackerten für einen kurzen Moment Gitterfenster, Dachschindeln und Wasserspeier auf. Viele Gebäude besaßen Blitzableiter, doch bei Weitem nicht alle. Ein alter Dachstuhl am Flussufer explodierte regelrecht, als er getroffen wurde. Flammen züngelten aus dem Gebälk und griffen auf die Nachbarhäuser über.

Es war furchterregend anzuschauen, wie das Unwetter über der Stadt tobte, aber Liam verspürte keine Angst. Jeden Blitz, der in den Mast einschlug, begrüßte er mit einem freudigen Schrei, bevor er den Hebel umlegte und einen weiteren Behälter füllte. Bald schon waren alle Rauchglasröhren voll, sodass er nach unten laufen und Nachschub holen musste.

Dieses Gewitter war eine Goldgrube, der Traum aller Blitzhändler. Was war nur los mit seinem Vater, dass er sich solch eine Nacht entgehen ließ?

4

Die stummen Zwillinge

Regen klatschte gegen die vergitterten Fenster und bildete wässrige Schlieren auf den Bleiglasscheiben. Blitze flackerten über den schwarzen Dächern und Kaminen, gefolgt von Donnergrollen.

Der Mann stellte den Kupferleuchter auf die Kommode und forderte Jackon mit einer Geste auf, vor den Spiegel zu treten. Jackon tat wie geheißen und begutachtete skeptisch sein Spiegelbild. An die ledernen Halbstiefel, die Leinenhose und das weiße Hemd hatte er sich inzwischen gewöhnt, obwohl er sich manchmal noch wie nackt darin fühlte, so leicht und fein waren diese neuen Kleider, verglichen mit seinen alten Lumpen. Auch dass die Schmutzschicht, die zeit seines Lebens jede Stelle seines Körpers bedeckt hatte, verschwunden war, war eine klare Verbesserung.

Der neue Haarschnitt jedoch... nein. Er sah damit überhaupt nicht mehr aus wie er selbst. Alles war so schrecklich kurz. Keine Fransen mehr, die ihm ins Gesicht hingen. Keine borstigen Locken und Zotteln im Nacken. Sein rotes Haar war sauber gescheitelt und glänzte obendrein vor Pomade.

Jackon verzog den Mund. Nein, daran würde er sich niemals gewöhnen. »Du scheinst ja sehr zufrieden mit dir zu sein, was?«

Der Mann nickte.

»Verrätst du mir auch den Anlass? Du hast mich doch bestimmt nicht nur für dich und deinen Bruder herausgeputzt, oder?«

Er bekam keine Antwort, natürlich nicht - der Mann besaß keine Zunge mehr, genau wie sein Zwillingsbruder. Mit einem Blitzen in den Augen, möglicherweise ein Lächeln, nahm er den Leuchter an sich. Dann verabschiedete er sich, indem er Jackon zunickte, und schloss die Tür hinter sich.

Jackon seufzte, setzte sich aufs Bett und blickte aus dem Fenster. Niedergeschlagenheit überkam ihn.

Es war nicht so, dass es ihm in diesem Haus schlecht erging. Ganz im Gegenteil, eigentlich hatte er noch nie so gut gelebt. Er bewohnte ein eigenes Zimmer mit einem bequemen Bett und zwei Truhen voller Kleider - geradezu luxuriös, verglichen mit seinem Unterschlupf in den Kanälen. Er konnte einen Waschraum benutzen, wo es fließendes Wasser gab. Die stummen Zwillinge behandelten ihn gut und erfüllten ihm im Rahmen ihrer Möglichkeiten jeden Wunsch. Und essen konnte er, so viel er wollte: Im Erdgeschoss befand sich eine Vorratskammer voll mit Brot, Hartwurst, Pökelfleisch, Kartoffeln, Bohnen, Milch, Ale und vielen anderen Nahrungsmitteln, darunter einige, die er nie zuvor gekostet hatte, Kaffee beispielsweise. Jeden Tag aß er sich satt. Er hatte schon ganz vergessen, wie es sich anfühlte, Hunger zu haben. Sogar zugenommen hatte er.

Es gab nur einen einzigen Haken: Er durfte das Haus nicht verlassen.

Nicht, dass er es nicht versucht hätte. In den ersten Tagen hatte er jeden erdenklichen Fluchtweg ausprobiert. Doch es erwies sich rasch als aussichtslos. Schmiedeeiserne Gitter befanden sich vor sämtlichen Fenstern. Die einzige Tür war Tag und Nacht abgeschlossen und bestand obendrein aus massivem Holz. Geöffnet wurde sie nie, denn alles, was er und die stummen Zwillinge benötigten, war im Haus im Überfluss vorhanden. Und wenn er sich einmal nicht in seinem Zimmer aufhielt, ließen ihn die Zwillinge, die sich mit Schlafen abwechselten, nicht aus den Augen. Also hatte er sich in sein Schicksal gefügt und versucht, dieses seltsame Leben zu genießen. Anfangs war ihm das sogar gelungen. Allmählich jedoch stellte sich quälende Langeweile ein.

Er betrachtete die Kerben am Bettpfosten. Neunzehn Stück. Neunzehn Tage. So lange war er jetzt hier. Und es gab nicht das Geringste zu tun. Ein wohlmeinender Mensch hatte diesen Umstand berücksichtigt und ein Regal mit Büchern in seiner Kammer aufgestellt. Leider konnte er nicht lesen.

Wenn er wenigstens gewusst hätte, weswegen man ihn festhielt... Aber er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie er hergekommen war. Der Krähenmann hatte ihn in seinem Schlupfwinkel überwältigt und ihm ein feuchtes Tuch auf Nase und Mund gepresst, woraufhin er das Bewusstsein verloren hatte. Aufgewacht war er in dem Bett, auf dem er gerade saß. Seitdem hatte sich der Krähenmann nicht wieder blicken lassen - was Jackon nicht gerade bedauerte. Ihm lief ein kalter Schauder über den Rücken, wenn er sich daran erinnerte, wie sich die Krähe vor seinen Augen in einen Menschen verwandelt hatte.

Unversehens war er in eine fremde und bedrohliche Welt geraten. In den Kanälen wusste er stets, was er tun und lassen musste, um den zahlreichen Gefahren zu trotzen. Hier jedoch war er hilflos. Verloren.

Wo auch immer »hier« war.

Wenn er aus dem Fenster blickte, sah er verwitterte Fassaden im Schein der Gaslaternen, Torbögen aus rußigem Stein, Erker und gusseiserne Balkone. Verwachsene Bäume neigten sich über die Straße, auf der selbst bei Sonnenschein nicht viele Menschen unterwegs waren, meist Männer mit Gehröcken und Spazierstöcken, die aus Droschken stiegen. All das deutete darauf hin, dass er sich irgendwo in der Altstadt befand. Aber sicher war er sich nicht. Denn abgesehen von ein paar Abstechern in den Kessel und den Chymischen Weg hatte er die Grambeuge und das Hafenviertel noch nie verlassen.

Das Gewitter schien immer schlimmer zu werden. Als er gerade beschloss, diese ungemütliche Nacht im Bett zu verbringen, hielt vor dem Haus eine Kutsche.

Unruhe erfasste ihn. Also hatte er sich nicht getäuscht, was den Haarschnitt betraf: Jemand kam hierher - zu ihm.

Eine Gestalt stieg aus und ging im grünen Licht der Kutschenlaternen zur Haustür. Es war der Krähenmann.

Jackons Unruhe verwandelte sich in Angst. Ihm kam der törichte Gedanke, sich zu verstecken. Aber wo? In diesem Haus gab es keine Verstecke, die nicht auch seine stummen Wächter kannten.

Aufgeregt ging er im Zimmer umher und überlegte, was er jetzt tun sollte. Als sich die Tür öffnete, erstarrte er.

Der Krähenmann sah genauso aus wie bei ihrer ersten Begegnung, abgesehen davon, dass sein schwarzer Mantel nass vom Regen war.