»Zieh dich an«, befahl er mit einer seltsam tonlosen Stimme.
»Wohin gehen wir?«
»Das erfährst du noch früh genug. Nun mach schon.«
Mechanisch gehorchte Jackon, öffnete eine Kleidertruhe und schlüpfte in einen Mantel. Dann folgte er dem Krähenmann nach unten, wo die Zwillinge standen. Der Krähenmann gab einem von ihnen einen Lederbeutel, wofür sich der Stumme mit einer Verneigung bedankte.
Jackon warf den beiden Männern einen hilflosen Blick zu. Ihre Gesichter waren bar jeder Regung, als der Krähenmann die Tür öffnete und ihn mit einer Geste aufforderte, nach draußen zu gehen.
Regen peitschte ihm ins Gesicht, bevor jemand die Kutschentür von innen öffnete und ihn einsteigen ließ. Drinnen saß eine Frau, die wie der Krähenmann einen langen Mantel und schwarze Stiefel trug. Ihr rotbraunes Haar hatte sie streng nach hinten gebunden, ihr Gesicht wirkte hart, unter den dunklen Augen lagen Schatten. Sie bedachte ihn mit einem bohrenden Blick.
»Schön brav sein, ja?«, sagte sie. »Wenn du irgendwelche Mätzchen machst, werde ich ungemütlich.«
Jackon schluckte und sah zu Boden.
Nachdem der Krähenmann eingestiegen war, setzte sich die Kutsche in Bewegung und fuhr durch die Nacht. Jackon fürchtete sich so sehr, dass er keinen Ton herausbrachte.
»Wir bringen dich zur Lady«, sagte die Frau. »Wenn du vor ihr stehst, vergiss, dass du eine Kanalratte bist, und benimm dich wie ein zivilisierter Mensch. Verstanden?«
»Welche Lady?«, brachte er leise hervor.
»Nimmst du mich auf den Arm?«, schnarrte die Frau.
Er schüttelte den Kopf.
»Lady Sarka, wer denn sonst?«
Jackon war, als drückten eiskalte Hände seine Kehle zusammen. Schlimm genug, dass er mit diesen beiden unheimlichen Gestalten in der Kutsche sitzen musste. Dass er nun auch noch der gefürchteten Herrscherin von Bradost gegenübertreten sollte, brachte ihn vor Entsetzen schier um den Verstand.
Warum, bei der Gnade des Himmels? Er war doch nur ein Schlammtaucher und hatte nichts verbrochen. Was konnte jemand wie Lady Sarka von ihm wollen?
Die weitere Fahrt verbrachte er wie in Trance. Die Kutsche rumpelte über kopfsteingepflasterte Straßen, während der Regen auf das Dach trommelte. Gelegentlich schälte sich ein Gebäude aus der Finsternis, nur um im nächsten Moment wieder zu verschwinden. Jackon hatte nicht die geringste Ahnung, wohin sie fuhren. Diese Gegend war ihm so fremd, dass es genauso gut eine andere Stadt hätte sein können.
Irgendwann kamen sie zu einem schmiedeeisernen Tor, das zwei schemenhafte Gestalten für sie öffneten. Kurz darauf stiegen Jackon und seine beiden Begleiter aus. Sie befanden sich auf einem kleinen Hügel. Bäume und Hecken säumten den Weg und bogen sich im Wind; vor ihm erhob sich ein Palast. Er war nicht sehr groß, jedoch überaus verwinkelt. In einigen Erkerfenstern brannte Licht. Trotz Regen und Dunkelheit glaubte Jackon, Krähen zu sehen, Dutzende, Hunderte, die auf Dachfirsten und Turmspitzen hockten.
Alles in ihm schrie nach Flucht, doch bevor er auch nur einen konkreten Gedanken fassen konnte, packte ihn die Frau am Nacken und schob ihn unsanft den Weg entlang.
»Du kannst nirgendwo hin«, sagte sie. »Also versuch es gar nicht erst.«
Auf der breiten Treppe des Anwesens standen zwei Wächter in schwarzen Kutten, die die Pforte öffneten. Glitzernde Masken verbargen die Gesichter in den Kapuzen. Jackon wurde klar, wen er vor sich hatte: Spiegelmänner. Seine Knie wurden weich.
Drinnen ließ die Frau ihn los. Sie und der Krähenmann nahmen ihn in die Mitte, während sie die Eingangshalle durchquerten. Auf den Galerien standen weitere Spiegelmänner, reglos wie Statuen. Durchgänge und Treppenfluchten verloren sich im Halbdunkel. Grüne Lampen schimmerten trüb in den Nischen wie Irrlichter in unterirdischen Kavernen. Man führte ihn durch Flure und Korridore, wo aufleuchtende Blitze die Schatten der Fenstergitter an die Wände warfen. Niemand begegnete ihnen. Der Palast war so still wie ein Mausoleum.
Schließlich betraten sie einen gewaltigen Saal. Hoch über Jackons Kopf spannte sich eine Kuppel aus Glas und Eisen, auf die der Regen niederprasselte. Irgendwo glühte blaues Licht, dessen Quelle er nicht ausmachen konnte. Es ging in tiefe Schatten über, in denen sich Säulen, steinerne Gesichter und Treppenaufgänge verbargen. Etwas war nicht so, wie es sein sollte, während sie über den Marmorboden gingen: Ihre Schritte hallten nicht - als würde das seltsame Licht jedes laute Geräusch in sich aufsaugen.
»Geh«, befahl die Frau. »Sie erwartet dich bereits. Und denk daran, was ich gesagt habe: Versuch dich zu benehmen.«
Wie von fremden Kräften gelenkt ging Jackon tiefer in den Saal hinein, langsam, Schritt für Schritt. Seine Hände waren feucht, und er ballte sie zu Fäusten.
Als eine Frau aus den Schatten trat, blieb er stehen.
Es war das erste Mal, dass er Lady Sarka sah. Nie hätte er gedacht, dass sie so schön wäre. Sie trug ein hochgeschlossenes Kleid aus einem Stoff, der wie geschmolzenes Silber über ihren Leib floss, dazu feine Schuhe, die unter dem Saum hervorlugten. Ihr Gesicht war ebenmäßig und vollkommen. Zwei Locken ihres hochgesteckten blonden Haares fielen ihr auf die Wangen.
Sie lächelte warm. »Jackon«, sagte sie. »Wie schön, dass du endlich da bist.«
In seiner Ehrfurcht wagte er nicht, sich zu bewegen. Dann fiel ihm ein, was die rothaarige Frau gesagt hatte, und er verneigte sich unbeholfen.
»Du musst mir verzeihen, dass du so lange bei Wellcott und Kendrick bleiben musstest. Aber die Zeit war noch nicht reif, dass wir uns begegnen.«
Sprach sie von den stummen Zwillingen? Die Namen der beiden hatte er nie erfahren.
»Haben sie sich gut um dich gekümmert?«
Es dauerte einen Moment, bis Jackon seine Stimme wiederfand. »Sie waren sehr freundlich zu mir«, antwortete er so atemlos, dass er sich beinahe verhaspelte.
»Ja, das sind sie. Ich wusste, bei ihnen würdest du in guten Händen sein. Lass dich anschauen«, meinte Lady Sarka und ging um ihn herum. »Gut siehst du aus. Nicht mehr so schrecklich dürr wie noch vor drei Wochen. Corvas hat mir erzählt, dass du völlig abgemagert warst, als er dich fand.«
»Corvas?«, fragte er alarmiert.
»Ich hoffe, sein plötzliches Auftauchen hat dich nicht zu sehr erschreckt. Leider sah er keinen anderen Weg, als dich zu betäuben. Er fürchtete, du würdest fliehen, wenn er sich dir zu erkennen gäbe.«
Jackon warf einen verstohlenen Blick zu den beiden schattenhaften Gestalten, die ihn hergebracht hatten. Der Krähenmann war also kein anderer als Lady Sarkas rechte Hand, das Oberhaupt ihrer Geheimpolizei, der Anführer der grausamen Spiegelmänner. Beinahe war er froh, dass er dies erst jetzt erfuhr. Sonst wäre er in der Kutsche vermutlich vor Angst gestorben.
»Er war eine Krähe!«, platzte es aus ihm heraus, bevor ihm klar wurde, wie sich das für Lady Sarka anhören musste. »Ich meine, er hat sich verwandelt... glaube ich wenigstens«, fügte er leiser hinzu und kam sich wie ein Trottel vor. Was fiel ihm ein, unaufgefordert zu sprechen?
»Corvas hat eine Reihe von bemerkenswerten Kräften«, erwiderte die Lady. »Genau wie Umbra, die du auch schon kennengelernt hast. Aber darüber wirst du später mehr erfahren. Reden wir zunächst über dich.«
Er schluckte nervös. Was kam jetzt?
»Bestimmt möchtest du wissen, warum ich dich herbringen ließ.«
Er nickte.
»Ich kenne dich gut, Jackon«, begann sie. »Du bist fünfzehn Jahre alt und lebst seit deiner Geburt in den Kanälen unter der Grambeuge. Deine Eltern sind tot; sie starben vor acht Jahren an der Cholera. Seitdem schlägst du dich allein durch, indem du Dinge aus den Abwässern fischst und verkaufst, nicht wahr?«
Er starrte sie an. Nicht einmal die anderen Schlammtaucher wussten so genau über ihn Bescheid.