»Großartig«, sagte Medivh lächelnd. »Wenn man eine Wahl zwischen zwei Alternativen hat, wählt man die dritte. Natürlich wolltest du eigentlich sagen, dass du, wenn du Feuer erzeugst, nur das inhärente Wesen des Feuers, das in deiner Umgebung enthalten ist, auf einen bestimmten Punkt konzentrierst und es so ins Sein rufst?«
»O ja«, sagte Khadgar. »Darüber hatte ich nachgedacht. Eine Zeit lang. Etwa ein paar Jahre.«
»Gut«, sagte Medivh und tupfte sich den Bart mit einer Serviette ab. »Du besitzt einen wachen Geist und eine ehrliche Einschätzung deiner eigenen Fähigkeiten. Jetzt wollen wir sehen, was du aus der Bibliothek machst. Moroes zeigt dir den Weg.«
Die Bibliothek nahm zwei Ebenen ein und befand sich in der unteren Turmhälfte. In diesem Bereich zog sich die Treppe um die Außenwände des Gebäudes und ließ einen Raum frei, der sich über zwei Stockwerke erstreckte. Ein schmiedeeisernes Podium schuf eine Galerie auf der zweiten Ebene. Die schmalen Fenster des Raumes waren mit ineinander verwobenen Eisenstäben gesichert, sodass nur wenig mehr an natürlichem Licht eindrang als auch eine abgedeckte Fackel geliefert hätte. Auf den großen Eichentischen der ersten Ebene leuchteten grau-blaue Kristallkugeln, die mit einer dicken Staubschicht überzogen waren.
Der Raum selbst war ein Katastrophengebiet. Willkürlich aufgeschlagene Bücher lagen überall verstreut, Schriftrollen hingen aufgerollt über Sesseln, und eine dünne Schicht staubigen Papiers bedeckte alles wie Laub einen Waldboden. Die noch immer an die Regale geketteten, älteren Bände waren herausgeholt worden und hingen wie Gefangene in einem Kerker von ihren Fesseln.
Khadgar begutachtete den Schaden und seufzte tief. »Du fängst erst mal ganz behutsam an«, sagte er.
»Ich könnte deine Sachen in einer Stunde packen«, erklang Moroes’ Stimme aus dem Gang. Der Diener betrat die eigentliche Bibliothek nicht.
Khadgar hob ein Stück Pergament auf, das zu seinen Füßen lag. Darauf verlangten die Kirin Tor von dem Meistermagier, dass er auf ihren letzten Brief antwortete. Die andere Seite des Blattes zeigte einen dunkelroten Fleck, den Khadgar zuerst für Blut hielt, bis er erkannte, dass es die Reste eines geschmolzenen Wachssiegels waren.
»Nein«, sagte Khadgar und streichelte den kleinen Beutel, in dem er die Schreiber-Utensilien verwahrte. »Es ist nur eine größere Herausforderung, als ich zunächst erwartet hatte.«
»So was hab ich auch früher schon gehört«, sagte Moroes.
Khadgar wandte sich ihm zu, um mehr über die Nöte seiner Vorgänger zu erfahren, aber der Diener war bereits verschwunden.
Mit der Sorgfalt eines Einbrechers suchte sich Khadgar seinen Weg durch das Chaos. Es war, als habe in der Bibliothek eine Schlacht getobt. Buchrücken waren gebrochen, Einbände halb zerrissen, Seiten umgeknickt. Und das betraf nur die Bücher, die noch weitgehend heil waren. Ganze Mappeninhalte waren aus ihren Einbänden gezogen worden, und der Staub auf den Tischen bedeckte eine Schicht von Papieren und Korrespondenz. Manche der Briefe waren geöffnet, andere offensichtlich noch immer ungelesen, ihr Wissen unter dicken Wachssiegeln verborgen.
»Der Magus braucht keinen Assistenten«, murmelte Khadgar, während er einen Platz am Ende eines Tisches frei räumte und einen Stuhl darunter hervorzog. »Er braucht eine Haushälterin.« Dann warf er einen schnellen Blick zur Tür, um sicherzustellen, dass der Kastellan auch tatsächlich verschwunden war.
Khadgar setzte sich nieder. Der Stuhl wackelte verdächtig, sodass der Junge wieder aufstand und nach der Ursache forschte. Eines der Stuhlbeine hatte einen fetten Wälzer mit einem metallischen Einband verschoben, halb daraufgestanden. Der Deckel des Folianten war reich verziert, und der Seitenrand mit Silber überzogen.
Khadgar hob den Band auf und öffnete ihn. Da spürte er, wie sich etwas in dem Buch leicht bewegte. Ein hohles Kratzen erklang. Metall schabte an Metall, und die Augen des Jungen weiteten sich. Innerhalb des Buchrückens spulte sich etwas ab.
Dann begann der Foliant zu ticken.
Schnell schloss Khadgar den Einband wieder, und das Buch wurde nach einem scharfen Surren und einem lauten Schnappgeräusch wieder vollkommen still, während sich seine Mechanik neu justierte. Der junge Mann legte es vorsichtig auf den Tisch.
Dann bemerkte er die Brandflecken auf seinem Stuhl und auf dem Boden darunter.
»Ich ahne, warum Ihr so viele Assistenten verbraucht«, seufzte Khadgar und durchquerte langsam den Raum.
Die Lage verbesserte sich nicht. Bücher hingen über Sessellehnen und Metallgeländer. Die Korrespondenz wurde umfangreicher, je tiefer er sich in den Raum bewegte, und bald versank er bis fast zu den Knien darin. In der Ecke eines Bücherregals hatte etwas ein Nest gebaut, und als Khadgar das kleine Knäuel vom Brett nahm, kullerte der winzige Schädel einer Spitzmaus heraus und zerfiel, als er auf dem Boden aufschlug, zu Staub. Die obere Ebene war wenig mehr als ein Lagerbereich. Die Bücher hatten noch nicht einmal die Regale erreicht, sondern türmten sich nur zu immer höheren Stapeln auf. Erst zu Hügeln, dann zu Bergen und schließlich zu unbezwingbaren Gipfeln.
Und es gab eine leere Stelle, doch diese sah aus, als habe jemand bei dem verzweifelten Versuch, die Menge des vorhandenen Papiers zu reduzieren, ein Feuer angezündet. Khadgar untersuchte den Bereich und schüttelte den Kopf. Hier war auch noch etwas anderes verbrannt; es bestand aus Stofffetzen, die wahrscheinlich einmal die Robe eines Gelehrten gewesen waren.
Khadgar schüttelte ein weiteres Mal den Kopf und ging zurück zu dem Tisch, auf dem er seinen Beutel mit den Schreiber-Utensilien zurückgelassen hatte. Er schüttete einen dünnen, hölzernen Federhalter und eine Handvoll Metallfedern aus, außerdem einen Stein zum Spitzen und Formen der Federn, ein Messer mit einer flexiblen Klinge, um Pergament zu schaben, einen Block Octopus-Tinte, einen kleinen Teller, in dem er die Tinte schmelzen konnte, eine Sammlung dünner, flacher Schlüssel, ein Vergrößerungsglas und etwas, das auf den ersten Blick aussah wie eine Metall-Grille.
Er nahm die Grille, legte sie auf den Rücken und steckte eine seltsam geformte Metallfeder in ihren Bauch. Damit zog er sie auf. Dieses Geschenk, das Guzbah ihm zum Bestehen seiner ersten Prüfung als Schreiber gemacht hatte, hatte sich während der Erkundungen des Jungen in den Hallen der Kirin Tor schon des öfteren als unentbehrlich erwiesen. Im Innern des Metall-Insekts steckte ein einfacher, aber effektiver Zauber, der vor Fallen warnte.
Sobald er die Grille um eine volle Drehung aufgezogen hatte, stieß sie einen hohes Kreischen aus. Erschreckt ließ Khadgar das magische Spürgerät fast fallen, aber dann begriff er, dass ihn das Insekt nur über die Intensität der möglichen Gefahr informierte.
Khadgar betrachtete die Bücher-Haufen, die um ihn herum lagen, und murmelte einen leisen Fluch. Er wich zur Tür zurück und zog die Grille dort vollends auf. Dann holte er das erste Buch, das ihm in die Hände gefallen war – das tickende Buch – und brachte es zur Tür.
Die Grille trällerte leicht. Khadgar deponierte das Fallen-Buch nahe der Tür auf dem Boden. Er holte ein anderes Buch und brachte es zur Grille. Das Metall-Insekt schwieg.
Khadgar hielt den Atem an, hoffte, dass die Grille tatsächlich in der Lage war, alle Arten von Fallen magischer oder anderer Natur zu erkennen, und öffnete das Buch. Es war eine von sanfter, weiblicher Hand verfasste Abhandlung über die Politik der Elfen, die etwa dreihundert Jahre alt sein mochte.
Khadgar trennte das handgeschriebene Werk von dem als Falle identifizierten und ging, um das nächste zu holen.
»Ich kenne dich«, sagte Medivh am nächsten Morgen bei Wurst und Haferbrei.
»Khadgar, Herr«, sagte der Junge.
»Der neue Assistent«, sagte der ältere Magier. »Natürlich. Vergib mir, aber meine Erinnerung ist nicht mehr das, was sie einmal war. Ich habe zu viel um die Ohren, fürchte ich.«
»Etwas, wobei Ihr Hilfe brauchen könntet, Herr?«, fragte Khadgar eifrig.
Der ältere Mann schien einen Augenblick darüber nachzudenken, dann sagte er: »Die Bibliothek, mein Vertrauen. Wie stehen die Dinge in der Bibliothek?«