»Die Zwerge, die sie trainiert haben, reagieren wenig begeistert, wenn jemand anderes ihre Tiere ausleihen will«, erklärte Medivh. »Aber vielleicht kannst du ja mit ihnen reden. Und auch mit den Gnomen. Sie haben ein paar Flugmaschinen, die vielleicht besser fürs Kundschaften geeignet sind.«
Lothar nickte und rieb sich das Kinn. »Woher wusstest du, dass sie hier sein würden?«
»Ich bin einem ihrer Späher in der Nähe meines Gebiets begegnet«, erklärte Medivh so ruhig, als spräche er über das Wetter. »Es gelang mir, aus ihm herauszubekommen, dass eine große Gruppe unterwegs war, um entlang der Sumpfstraße Karawanen zu überfallen. Ich hatte gehofft, noch rechtzeitig einzutreffen, um die Leute zu warnen.« Er blickte auf die Verwüstung, die ihn umgab.
Das Sonnenlicht tat wenig, um das Bild der Zerstörung abzumildern. Die kleineren Feuer waren niedergebrannt, und die Luft roch nach verschmortem Ork-Fleisch. Eine bleiche Wolke hing über dem Ort des Massakers.
Ein junger Soldat, nur wenig älter als Khadgar, eilte auf sie zu. Sie hatten einen Überlebenden gefunden. Er befand sich in einem sehr schlechten Zustand, aber er lebte. Ob der Magus ihm helfen könne?
»Kannst du bei dem Jungen bleiben?«, bat Medivh Lord Lothar. »Er ist noch ziemlich mitgenommen von den Ereignissen.« Und dann schritt der Meistermagier über den verbrannten, blutgetränkten Boden davon. Seine lange Robe flatterte wie ein Banner.
Khadgar versuchte, aufzustehen und ihm zu folgen, aber der Champion des Königs legte seine schwere Hand auf die Schulter des Jungen und hielt ihn unten. Khadgar wehrte sich nur für einen Moment, dann setzte er sich wieder hin.
Lothar betrachtete Khadgar lächelnd. »Also hat der alte Eigenbrötler endlich einen Assistenten gefunden.«
»Schüler«, sagte Khadgar schwach, doch er fühlte, wie sich der Stolz in seiner Brust erhob. Das Gefühl brachte seinem Geist und seinen Gliedern neue Stärke. »Er hat schon viele Assistenten gehabt. Sie haben alle nicht lange durchgehalten. Das habe ich jedenfalls gehört.«
»Aha«, sagte Lothar. »Ich habe ein paar von diesen Assistenten vermittelt, und sie kehrten mit Geschichten von einem verfluchten Turm und einem verrückten, anspruchsvollen Zauberer zurück. Was hältst du von ihm?«
Khadgar blinzelte. In den letzten zwölf Stunden hatte Medivh ihn angegriffen, Wissen in seinen Kopf gebrannt, ihn auf einem Greifen durchs halbe Land geschleppt und es ihn allein mit einer Hand voll Orks aufnehmen lassen, bevor er zu seiner Rettung erschienen war. Andererseits hatte er Khadgar zu seinem Schüler gemacht, zu seinem Lehrling.
Khadgar hüstelte und sagte: »Er ist mehr, als ich erwartet hatte.«
Lothar lächelte wieder, und es lag ehrliche Wärme auf seinem Gesicht. »Er ist mehr, als irgendjemand erwartet hatte. Das ist eine seiner guten Seiten.« Lothar dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Das war eine sehr kluge und höfliche Antwort.«
Khadgar gelang ein schwaches Lächeln. »Lordaeron ist ein sehr kluges und höfliches Land.«
»Das habe ich auch vom König gehört. Ich zitiere: ‚Die Botschafter von Dalaran können gleichzeitig Ja und Nein sagen und außerdem noch überhaupt nichts.‘ Womit ich dich nicht beleidigen will.«
»Ich bin nicht beleidigt, Mylord«, sagte Khadgar.
Lothar blickte ihn an. »Wie alt bist du, Junge?«
Khadgar blickte den älteren Mann an. »Siebzehn, warum?«
Lothar schüttelte den Kopf und grunzte. »Das könnte einen Sinn ergeben.«
»Wie Sinn ergeben?«
»Med … ich meine, Lord Magus Medivh war ein junger Mann, viel jünger als du, als er sehr krank wurde. Aus diesem Grund hatte er niemals sehr viel Kontakt mit Menschen deines Alters.«
»Krank?«, fragte Khadgar. »Der Magus wurde krank?«
»Sehr, sehr krank«, sagte Lothar. »Er fiel in einen tiefen Schlaf, ein Koma nannten sie es. Llane und ich brachten ihn in die Northshire-Abtei, und die heiligen Brüder dort fütterten ihn mit Brühe, damit er nicht starb. Jahrelang lag er in diesem Schlaf, dann – schnapp! – wachte er auf, gesund wie ein Fisch im Wasser. Oder fast.«
»Fast?«, fragte Khadgar.
»Nun, er verlor einen großen Teil seiner Jugendjahre und noch ein paar Jahrzehnte mehr. Er schlief als Junge ein und erwachte als erwachsener Mann. Ich habe mir stets Sorgen gemacht, wie ihn das geprägt haben muss.«
Khadgar dachte an das quecksilbrige Temperament des Meistermagiers, seine plötzlichen Stimmungsschwankungen und die kindliche Freude, mit der er sich in den Kampf gegen die Orks gestürzt hatte. Wenn Medivh ein jüngerer Mann gewesen wäre, hätte sein Handeln dann mehr Sinn ergeben?
»Sein Koma«, sagte Lothar und schüttelte das kahle Haupt bei der Erinnerung daran. »Es war unnatürlich. Med nennt es ein ›Nickerchen‹, als sei es etwas vollkommen Normales gewesen. Aber wir haben niemals herausfinden können, warum es geschehen ist. Vielleicht hätte es der Magus in Erfahrung bringen können, aber er hat niemals ein Interesse an diesem Rätsel gezeigt, selbst wenn ich ihn danach fragte.«
»Ich bin Medivhs Schüler«, sagte Khadgar. »Warum erzählt Ihr mir das?«
Lothar seufzte tief und blickte über die vom Kampf Versehrte Insel hinaus. Khadgar erkannte, dass der Champion des Königs im Grunde ein ehrlicher Mann war, der es in Dalaran nicht einen Tag ausgehalten hätte. Seine Gefühle lagen klar sichtbar auf seinem verwitterten Gesicht.
Lothar biss sich auf die Lippen und sagte: »Um ehrlich zu sein, ich mache mir Sorgen um ihn. Er ist ganz allein in seinem Turm …«
»Er hat einen Kastellan. Und dann ist da noch Köchin«, warf Khadgar ein.
»… allein mit all seiner Magie«, fuhr Lothar fort. »Es scheint mir so einsam, wie er dort zurückgezogen in den Bergen lebt. Ich mache mir Sorgen um ihn.«
Khadgar nickte und fügte für sich selbst hinzu: Und das ist der Grund, dass Ihr versucht habt, Schüler aus Azeroth zu ihm zu bringen. Um Euren Freund auszuspionieren. Ihr macht Euch Sorgen um ihn, aber Ihr macht Euch auch Sorgen wegen seiner Macht. Laut sagte Khadgar: »Ihr macht Euch Sorgen, ob es ihm gut geht.«
Lothar zuckte mit den Schultern und enthüllte damit, wie sehr er sich Sorgen machte – und wie sehr er versuchte, so zu tun, als sei dem nicht so.
»Was kann ich tun, um zu helfen?«, fragte Khadgar. »Ihm zu helfen. Euch zu helfen.«
»Behalte ihn im Auge«, sagte Lothar. »Wenn du sein Schüler bist, wird er wahrscheinlich mehr Zeit mit dir verbringen. Ich will nicht, dass er …«
»Wieder in ein Koma fällt?«, fragte Khadgar. Zu einer Zeit, wo diese Orks plötzlich überall sind. Lothar antwortete mit einem weiteren Schulterzucken.
Khadgar schenkte ihm das beste Lächeln, zu dem er fähig war. »Es wäre mir eine Ehre, Euch beiden zu helfen, Lord Lothar. Wisst, dass meine Treue zuerst dem Meistermagier gelten muss, doch wenn es etwas gibt, das ein Freund wissen sollte, dann werde ich es weitergeben.«
Ein weiterer schwerer Klaps von Lothars Hand. Khadgar war erstaunt darüber, wie schlecht Lothar seine Besorgnis verbarg. Waren alle Menschen in Azeroth so offen und arglos? Khadgar erkannte, dass es noch etwas anderes gab, über das Lothar sprechen wollte.
»Es gibt noch etwas«, sagte Lothar.
Khadgar nickte höflich.
»Hat der Lord Magus mit dir über den Wächter gesprochen?«, fragte er.
Khadgar überlegte einen Augenblick, ob er so tun sollte, als wüsste er mehr, als es tatsächlich der Fall war – nur um diesem älteren, aufrechten Mann mehr zu entlocken. Doch noch während ihm der Gedanke durch den Kopf ging, verwarf er ihn. Es würde am Besten sein, sich an die Wahrheit zu halten.
»Ich habe den Begriff von Medivhs Lippen gehört«, sagte Khadgar. »Aber ich weiß keine Details.«
»Ah«, sagte Lothar. »Dann tu so, als hätte ich nichts zu dir gesagt.«
»Ich bin mir sicher, wir werden zu gegebener Zeit darüber sprechen«, erwiderte Khadgar.
»Zweifellos«, sagte Lothar. »Du scheinst ein vertrauenswürdiger junger Mann zu sein.«