»Glaubst du, er wird uns folgen?«, fragte Garona.
»Ich weiß es nicht«, sagte Khadgar. »Aber ich will nicht mehr hier sein, wenn er es tut. Wir müssen nach Stormwind.«
Sie schlugen sich für den Rest des Abends und der Nacht durch, bis sie einen Pfad fanden, der ungefähr in Richtung Stormwind lief. Niemand folgte ihnen, und es gab auch keine seltsamen Lichter am Himmel, deshalb ruhten sie sich kurz vor Morgengrauen aus und schliefen unter einem Baum.
Auch den ganzen nächsten Tag begegnete ihnen niemand. Sie sahen Häuser, die bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren und frisch aufgeworfene Erde, wo man Familien begraben hatte. Umgeworfene und zerschmetterte Kutschen lagen herum, und ab und zu sah man Kreise voller Aschehaufen. Garona erklärte, dass die Orks so ihre Toten bestatteten, nachdem sie die Leichen ausgeraubt hatten.
Sie sahen nur tote Tiere – aufgeschlitzte Schweine bei einem zerstörten Bauernhaus, die skelettierten Überreste eines Pferds, von dem man alles außer dem Kopf vertilgt hatte. Stumm zogen sie von einer verbrannten Farm zur nächsten.
»Deine Leute waren gründlich«, sagte Khadgar irgendwann.
»Sie legen Wert auf solche Dinge«, erwiderte Garona grimmig.
»Wert?« Khadgar sah sich um. »Legen sie Wert auf Zerstörung? Auf Vernichtung? Keine menschliche Armee würde alles auf ihrem Weg niederbrennen oder Tiere grundlos töten.«
Garona nickte. »Das ist die Taktik der Orks. Man lässt nichts zurück, was der Feind sofort wieder einsetzen könnte, sei es Nahrung, Unterkunft oder Wertsachen. Man verbrennt alles. Die Grenzen der Ork-Clans sind oft verwüstete Gebiete, weil ein Clan dem anderen die Ressourcen wegzunehmen versucht.«
Khadgar schüttelte den Kopf. »Das sind keine Ressourcen«, sagte er wütend, »das sind Leben. Dieses Land war mal grün und fruchtbar, mit Feldern und Wäldern. Jetzt ist es eine Einöde. Sieh es dir an! Wie soll es je Frieden zwischen Menschen und Orks geben?«
Garona erwiderte nichts. Den ganzen Tag lang zogen sie stumm weiter und lagerten in den Überresten eines Gasthauses. Sie schliefen in getrennten Zimmern, er in den Trümmern des Schankraums, sie weiter hinten in der Küche. Er schlug nicht vor zusammenzubleiben, sie ebenfalls nicht.
Khadgar wurde vom Knurren seines Magens geweckt. Sie waren ohne Vorräte aus dem Turm geflohen, und außer einigen Beeren und Nüssen hatten sie seit mehr als einem Tag nichts mehr gegessen.
Der junge Magier erhob sich mit knackenden Gelenken von dem regenfeuchten Stroh, das ihm als Lager gedient hatte. Er hatte seit seiner Ankunft in Karazhan nicht mehr im Freien geschlafen und fühlte sich unwohl. Die Furcht des vergangenen Tages hatte ihn verlassen, und er fragte sich, wie die nächsten Schritte aussehen sollten.
Ihr Ziel war Stormwind, aber wie sollte er jemanden wie Garona in die Stadt bekommen? Vielleicht konnte er sie irgendwie tarnen, falls sie überhaupt mitkommen wollte. Jetzt, da sie nicht mehr im Turm festsaß, war es vielleicht besser, wenn sie zu Gul’dan und dem Stormreaver-Clan zurückkehrte.
Etwas bewegte sich hinter der zertrümmerten Wand des Gebäudes. Vielleicht war es Garona. Sie musste so hungrig wie Khadgar sein. Sie hatte sich nicht beschwert, aber die Spuren der Orks wiesen darauf hin, dass sie große Nahrungsmengen benötigten, um sich in Form zu halten.
Khadgar stand auf, schüttelte die Müdigkeit aus seinen Gedanken und lehnte sich aus dem Fenster, um zu fragen, ob es noch etwas zu essen in der Küche gab …
… und sah sich einer gewaltigen doppelseitigen Axt gegenüber, deren eine Klinge auf seinen Hals gerichtet war.
Am anderen Ende der Axt befand sich das jadegrüne Gesicht eines Orks. Eines echten Orks. Khadgar war bis zu diesem Moment nicht klar gewesen, wie sehr er sich an Garonas Gesicht gewöhnt hatte. Dieses gewaltige Kinn hier und die wulstigen Brauen wirkten schockierend.
Der Ork knurrte. »Wasmachsdehie?«
Khadgar hob langsam die Hände, während sein Geist magische Energie sammelte. Ein einfacher Zauberspruch würde reichen, um die Kreatur zur Seite zu werfen und mit Garona zu fliehen.
Außer Garona hat sie hierher gebracht, dachte er plötzlich.
Er zögerte, und das war sein Fehler. Er hörte eine Bewegung hinter sich, konnte sich aber nicht mehr umdrehen, als etwas Großes und Schweres in seinen Nacken schlug.
Er war nicht lange bewusstlos, aber die Zeit hatte einem halben Dutzend Orks gereicht, um sich im Raum zu verteilen. Sie durchsuchten die Trümmer mit ihren Äxten. Sie trugen grüne Armbinden, gehörten also zum Bleeding-Hollow-Clan, wie seine Erinnerung ihm verriet. Er bewegte sich, und der erste Ork – jener mit der doppelseitigen Axt – wandte sich ihm wieder zu.
»Wosdenzeuch?«, sagte der Ork. »Wohasdesversteck?«
»Was?« Khadgar fragte sich, ob die Stimme des Orks oder seine eigenen Ohren die Sprache so undeutlich machten.
»Dein Zeug«, sagte der Ork langsamer. »Deine Ausrüstung. Du hast nichts. Wo hast du alles versteckt?«
Khadgar antwortete, ohne nachzudenken. »Kein Zeug. Habe es verloren. Kein Zeug.«
Der Ork schnaufte. »Dann stirbst du«, knurrte er und hob die Axt.
»Nein!«, schrie Garona aus dem zerstörten Türrahmen. Sie sah aus, als hätte sie keine gute Nacht hinter sich, aber an ihrem Gürtel hingen mehrere Hasen. Sie war auf der Jagd gewesen. Khadgar schämte sich wegen seiner Verdächtigungen.
»Hau ab, Halbblut«, knurrte der Ork. »Das geht dich nichts an.«
»Du bringst mein Eigentum um, das geht mich absolut etwas an«, erwiderte Garona.
Eigentum?, dachte Khadgar, schwieg jedoch.
»Eintum«, nuschelte der Ork. »Wer bissn du, dass de Eintum has?«
»Ich bin Garona Halforcen«, knurrte die Frau. Ihr Gesicht war wutverzerrt. »Ich diene Gul’dan, Kriegszauberer des Stormreaver-Clans. Beschädige mein Eigentum, und du musst dich dem stellen.«
Der Ork schnaufte, artikulierte plötzlich wieder deutlicher. »Stormreaver? Pah! Man sagt, sie seien ein schwacher Clan, die sich von ihrem Kriegszauberer herumkommandieren lassen.«
Garona sah ihn mit stahlhartem Blick an. »Ich habe gehört, dass Bleeding Hollow den Twilight-Hollow-Clan beim Angriff nicht unterstützt hat, und dass beide Clans zurückgeworfen wurden. Ich habe gehört, dass ihr von Menschen in einem fairen Kampf geschlagen wurdet. Ist das wahr?«
»Tut nix zur Sache«, erwiderte der Bleeding-Hollow-Ork und verfiel wieder in seinen Slang. »Se hattn Pferde.«
»Vielleicht kann ich …«, setzte Khadgar an und wollte sich aufrichten.
»Runter, Sklave!«, brüllte Garona und stieß ihn hart zurück. »Du sprichst nur, wenn du gefragt wirst!«
Der Ork nutzte die Gelegenheit, um einen Schritt nach vorne zu machen, aber als Garona ihren Satz beendet hatte, fuhr sie herum und richtete einen langen Dolch auf den Bauch des Ork. Die anderen wichen vor dem bevorstehenden Kampf zurück.
»Zweifelst du mein Besitzrecht an?«, knurrte Garona mit Feuer in den Augen. Ihre Muskeln waren angespannt, drückten die Klinge gegen die Lederrüstung.
Einen Moment lang herrschte Stille. Der Bleeding-Hollow-Ork sah zuerst Garona, dann den am Boden liegenden Khadgar und schließlich wieder Garona an. Er schnaufte und sagte: »Besorg dir erst mal was, das den Kampf lohnen würde, Halbblut.«
Mit diesen Worten wich der Ork-Anführer zurück. Die anderen entspannten sich und verließen den in Trümmern liegenden Schankraum.
Einer seiner Untergebenen fragte auf dem Weg nach draußen: »Für was braucht se denn en Menschensklaven?«
Der Ork-Anführer antwortete etwas, das Khadgar nicht verstand. Der Untergebene rief zurück: »Is ja widerlich!«
Khadgar wollte aufstehen, aber Garona befahl ihm mit einer Handbewegung, unten zu bleiben. Ungewollt zuckte Khadgar zusammen.
Garona ging zu einem der glaslosen Fenster, sah einen Moment nach draußen und kehrte dann zu der Wand zurück, an der Khadgar lehnte.
»Ich glaube, sie sind weg«, sagte sie. »Ich hatte befürchtet, sie würden vielleicht zurückkehren, um sich zu rächen. Ihr Anführer wird heute Nacht bestimmt von seinen Untergebenen herausgefordert.«