Und Medivh war hier. Denn der Mann dort in mittleren Jahren, der sein langes Haar auf dem Rücken zu einem Zopf zusammengeflochten trug, konnte unmöglich jemand anderes sein. In seiner Jugend war sein Haar wahrscheinlich ebenholzschwarz gewesen, doch jetzt ergraute es bereits langsam an den Schläfen und entlang des Bartes. Khadgar wusste, dass viele Zauberer frühzeitig alterten, da die Kontrolle der magischen Kräfte, die sie zu nutzen verstanden, großer Anstrengungen bedurfte.
Medivhs Gewänder waren für einen Magier sehr schlicht, aber dennoch elegant und auf seine große Gestalt abgestimmt. Ein kurzes Chasuble, das nicht mit Verzierungen geschmückt war, hing an der Taille über das Beinkleid, das in riesigen Stiefeln endete. Ein schwerer, kastanienbrauner Mantel lag um seine breiten Schultern. Die Kapuze war zurückgeworfen.
Nachdem sich Khadgars Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, musste er feststellen, dass sein erster Eindruck, die Kleidung des Zauberers sei schmucklos, falsch gewesen war. Tatsächlich war sie mit so feinem Silber-Filigran durchsetzt, dass es auf den ersten Blick unsichtbar war. Khadgar blickte auf den Rücken des Magiers und erkannte das stilisierte Gesicht irgendeiner alten Dämonen-Legende. Er blinzelte, und das Muster verwandelte sich in einen zusammengerollten Drachen, dann in einen Nachthimmel.
Medivh hatte dem alten Diener und dem jungen Mann den Rücken zugewandt und ignorierte sie vollkommen. Er stand an einem der Tische, ein goldenes Astrolabium in der einen Hand, ein Notizbuch in der anderen. Er war in Gedanken versunken, und Khadgar fragte sich, ob dies eines der »Dinge« war, vor denen Moroes ihn gewarnt hatte.
Khadgar räusperte sich und trat einen Schritt nach vorne, aber Moroes hob eine Hand. Khadgar erstarrte auf der Stelle. Ein magischer Spruch hätte ihn nicht wirksamer bannen können.
Stattdessen trat der greise Diener leise an die Seite des Meistermagiers und wartete darauf, dass Medivh seine Gegenwart wahrnahm. Eine Minute verging. Eine zweite. Am Ende hätte Khadgar schwören können, dass eine Ewigkeit verstrichen war.
Der Magus setzte das Astrolabium ab und kritzelte ein paar Zeichen in sein Notizbuch. Er schloss es mit einem scharfen Schnappen und blickte zu Moroes.
Als er das Gesicht des Zauberers nun erstmals betrachten konnte, dachte Khadgar, Medivh sei viel älter als seine angeblichen Vierziger. Das Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und verwittert. Khadgar fragte sich, welche Magie Medivh praktizierte, die solch ausgeprägte Spuren auf seinen Zügen hinterließ.
Moroes griff in seine Weste und holte das zerknitterte Empfehlungsschreiben heraus, dessen Siegel hier im Fackelschein wie geronnenes Blut aussah. Medivh wandte sich um und betrachtete den Jungen.
Die Augen des Magiers lagen tief unter dunklen, schweren Brauen, aber Khadgar erkannte sofort die Kraft darin. Etwas tanzte und flackerte in diesen tiefgründigen, grünen Augen, etwas Mächtiges, etwas möglicherweise Unkontrolliertes. Etwas Gefährliches. Der Meistermagier blickte zu ihm, und nach einem Moment fühlte sich Khadgar, als habe der Zauberer seine gesamtes Leben betrachtet und es für nicht interessanter befunden als das eines Käfers oder das einer Fliege.
Medivh wandte den Blick von Khadgar ab und widmete seine Aufmerksamkeit dem noch immer versiegelten Brief. Khadgar entspannte sich sofort, als sei ein großes, hungriges Raubtier an ihm vorbei gegangen, ohne ihn eines zweiten Blickes zu würdigen.
Seine Erleichterung dauerte nicht lange. Medivh ließ den Brief ungeöffnet. Stattdessen zogen sich seine Brauen leicht zusammen, und das Pergament ging rauschend in Flammen auf. Das Feuer sammelte sich an dem von Medivh abgewandten Ende des Dokuments und flackerte in intensivem Blau.
Als Medivh sprach, klang seine Stimme sowohl tief als auch amüsiert.
»So«, sagte der Magier und ignorierte den Umstand, dass Khadgars Zukunft in seinen Händen loderte, »es scheint also, als sei unser kleiner Spion endlich eingetroffen.«
2
Gespräch mit dem Magus
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Medivh, und Khadgar merkte plötzlich, wie der Blick des Meistermagiers wieder schwer auf ihm lastete. Wieder fühlte er sich wie ein Käfer, dieses Mal jedoch wie einer, der versehentlich über den Tisch eines Käfersammlers gekrochen war. Die Flammen hatten das Empfehlungsschreiben bereits zur Hälfte verschlungen. Das Wachssiegel schmolz und tropfte auf die Fliesen des Observatoriums.
Khadgar war sich darüber im Klaren, dass seine Augen und sein Mund weit offen standen, sein Gesicht blutlos und bleich war. Er versuchte, die Luft zu einer Antwort aus seinen Lungen zu zwingen, doch ihm gelang nur ein ersticktes Röcheln.
Die dunklen, schweren Brauen kräuselten sich amüsiert. »Bist du krank? Moroes, ist der Junge krank?«
»Etwas außer Atem vielleicht«, sagte Moroes in gelangweiltem Tonfall. »Es war ein langer Aufstieg.«
Schließlich gelang es Khadgar, seine Sinne genügend zu sammeln, um zu sagen: »Das Schreiben!«
»Ah«, sagte Medivh. »Ja. Danke, ich hatte es fast vergessen.« Er ging zu dem Kohlebecken hinüber und ließ das brennende Pergament hinein fallen. Ein blauer Feuerball explodierte spektakulär bis auf Schulterhöhe und sank dann zu einer normal aussehenden Flamme herab, die den Raum mit einem warmen, rötlichen Leuchten erfüllte. Von dem Empfehlungsschreiben und seinem roten Siegel – das Symbol der Kirin Tor – war nichts mehr zu sehen.
»Aber Ihr habt es nicht gelesen!«, sagte Khadgar, dann fing er sich. »Ich meine, Herr, bei allem gebührenden Respekt …«
Der Meistermagier lachte leise und ließ sich in einen großen Sessel aus Leinwand und dunklem, geschnitztem Holz nieder. Das Kohlebecken beleuchtete sein Gesicht und unterstrich die tiefen Falten, die sich zu einem Lächeln geformt hatten. Trotzdem konnte Khadgar sich nicht entspannen.
Medivh beugte sich in seinem Sessel vor und sagte: »Oh, Großer und Verehrter Magus Medivh, Meistermagier von Karazhan, ich entbiete Euch die Grüße der Kirin Tor, der Herren der gelehrtesten und mächtigsten aller magischen Akademien, Gilden und Gesellschaften, der Berater der Könige, der Lehrer der Gelehrten, der Enthüller der Geheimnisse … Das geht noch eine ganze Zeit lang so weiter, und mit jedem Satz blasen sie sich ein bisschen mehr auf. Und? Wie schlag ich mich bisher?«
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Khadgar. »Mir wurde aufgetragen …«
»… den Brief nicht zu öffnen«, beendete Medivh den Satz. »Aber du hast ihn trotzdem aufgemacht.«
Der Meistermagier blickte Khadgar direkt in die Augen, und dem jungen Mann stockte der Atem. In Medivhs Blick flackerte etwas, und Khadgar fragte sich, ob der Meistermagier die Macht besaß, Zauber zu wirken, ohne dass irgendjemand es bemerkte.
Khadgar nickte langsam und wappnete sich für die Antwort.
Medivh lachte laut. »Wann?«
»Auf der … auf der Reise von Lordaeron nach Kul Tiras«, sagte Khadgar, unsicher, ob die Worte seinen potenziellen Mentor amüsieren oder verärgern würden. »Wir lagen für zwei Tage in einer Flaute und …«
»… die Neugier ging mit dir durch«, beendete Medivh wieder seinen Satz. Er lächelte, und es war ein reines, weißes Lächeln unter dem ergrauenden Bart. »Ich hätte den Brief wahrscheinlich schon geöffnet, sobald Dalarans Violette Zitadelle außer Sicht geraten wäre.«
Khadgar atmete tief ein und sagte: »Ich dachte auch darüber nach, aber ich fürchtete, sie würden Wahrsage-Zauber einsetzen, zumindest auf die kurze Entfernung.«